Terreiros als politische Kraft

15. Juli 2021, Iya Habiba

Vor einiger Zeit habe ich darüber nachgedacht und gesprochen, auf welche Weise Terreiros auch politische Kräfte sind. Das Ausrichten gemeinsamer Rituale, die komplex sind und einer gemeinsamen Hingabe und Schulung bedürfen, das Erlernen einer kosmologischen Weltenschau und ihrer speziellen Sprache, ihrer Wörter, ihrer Gesten, ihrer Gesänge – all das mag einen tiefen persönlichen Prozess auslösen, es vermag sogar Lebenswege und Prozesse neu zu prägen – aber es ist weit mehr als eine individuelle Schatzsuche.
Es ist eine Form, ein Statement, ein Mitgestalten von Welt.
Das Mitgestalten einer Welt, der wir uns teilhabend zugehörig fühlen, in der wir eine Stimme haben und einen Sinn für Mitverantwortung – das ist im Wesen politisches Handeln. Dazu müssen wir nicht politische Entscheidungsträger sein, in öffentlichen Gremien sitzen oder auf Demonstrationen gehen, Pamphlete schreiben oder im Untergrund aktiv sein. Aber wir können das auch alles tun, wenn das Leben uns dazu auffordert.

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit habe ich in diesem kleinen Impulsvortrag von folgenden Punkten gesprochen, in denen Terreiros die Welt mitgestalten. All diese Beiträge geschehen, wenn wir in einem Terreiro aktiv sind:

* Wir pflegen über die sinnlich, körperlich, konkrete Weise der Praxis Erdverbundenheit. Orixás und Entitäten leben nicht in einem fernen Raum, sie leben unter uns. Sie mögen unsichtbar sein, aber sie sind gegenwärtig und Initiation heisst unter anderem zu lernen, diese unsichtbaren Kräfte sinnvoll zu erkennen, anzusprechen und in Dialog zu treten.

* Wir trainieren Vielfalt. Terreiros waren und sind Orte, an denen viele verschiedene Kulturen, Denkweisen und Handlungsweisen zusammenkommen. Das ist auch ein ständiges Ausverhandeln von gemeinsamem Tun und tragfähiger Kultur.

* Wie kann es gelingen, dass alle Menschen und die Natur ein gutes Leben führen? Das ist eine zentrale Frage unserer Welt und erscheint zuweilen unlösbar. Aber wir können Refugien schaffen, in denen verbundenes Miteinander, ein Zusammenspiel möglich ist. Terreiros sind solche Refugien oder "Inseln", wie es eine Entität einmal gesagt hat.

* Ein Feuer, um das alle einen Platz finden, gegenseitiges Interesse, gemeinsames Handeln, miteinander Lachen und weinen, Zusammenfinden und wenn es sein will auch wieder trennen. Mit- und voneinander Lernen. Gemeinschaften zu bilden und zu lebendig zu gestalten ist anspruchsvoll und dennoch ein wesentliches Element innerhalb von Terreiros und der Welt.

* Freunde finden und Freundschaften zu pflegen, bezieht sich hier nicht nur auf die Menschen, die uns umgeben. Es geht auch um Verbundensein mit Entitäten und Orixás, um einen aktiven Dialog mit unsichtbaren Kräften, eine Einladung zum Miteinander und lebensbejahenden Durcheinander ;-)

* Die Menschheit hat in ihrer Geschichte viele Jahrtausende in enger Verbindung mit der Natur und ihren Kräften gelebt. Diese Erfahrung ist eingewoben in unsere Gene und ist insbesondere in alten Heilritualen noch zu erkennen. Wir pflegen diese Praxis lebendiger Erinnerung an jenes Wissen, was der Verbundenheit zustimmt und sich ihr vertrauensvoll hingibt.

* Über den Tanz und die Inkorporationstrance nehmen wir die Welt auf andere Weise war als über die Augen und unser Denken. Mit den Bewegungen des Körpers im Raum wird Unsichtbares sichtbar und kann sich in seiner Schönheit und Kraft zeigen und ins aktuelle Geschehen einfliessen. Das Fürwahrnehmen des Körpergedächtnis ist eine alte Kultur die wir aktiv halten.

* Rituale sind komplexe Angelegenheiten, ein Zusammenspiel von Menschen, Kräften, Rhythmus und Raum. Das Erlernen der Ritualsprachkunst von Umbanda und Candomble ist ein Bestandteil des Initiationsweges. Die Haltung und Präsenz die es braucht, die Bereitschaft sich einzubringen ohne zu dominieren und sich am gemeinsamen Handeln mehr zu erfreuen als am eigenen Verdienst, das lässt sich auch in unserer Welt gut brauchen.

Wenige Wochen nachdem ich diesen Vortrag gehalten hatte, wurde die Welt «angehalten»; wurde, wo immer möglich, das Zusammenkommen von Menschen untersagt, wurden Grenzen geschlossen, wurde sozialer Kontakt auf digitale Hilfsmittel reduziert, Arbeit mehrheitlich in Privaträume verlagert und sogar Singen und Tanzen untersagt. Für Terreiros bedeutete das, auf den Grossteil ihres Tuns zu verzichten und kreative Formen zu finden, die Praxis lebendig zu halten ohne Gemeinschaften zu belasten. Das Abtauchen in den Untergrund, Helfen auch wenn Hilfe gefährlich ist, solche Motive prägen viele Geschichten aus Terreiros aus Südamerika. Improvisieren, sich etwas einfallen lassen, weitergehen. All das hat wohl auch in den letzten Monaten dazu beigetragen, dass Terreiros weiterleben konnten.

Als Gemeinschaft, die ihren Hauptsitz in der Schweiz hat, waren wir – so wurde uns oft rückgemeldet – im "Covidschen Paradies". Nein, das heisst nicht, dass Covid sich hier ungehindert ausbreiten konnte, sondern dass die Art und Weise, wie in der Schweiz Massnahmen ergriffen und kommuniziert wurden, als wesentlich angemessener und demokratischer erlebt wurden als anderswo. Wie dem auch sei. Sicher ist, dass es uns wichtig war, unsere politische Kraft, das heisst also unsere Beiträge zur Welt auch in diesen Zeiten wahrzunehmen. Mit der konkreten Erde in Kontakt sein, Austausch pflegen, unterschiedliche Stimmen und Einschätzungen da sein lassen, Refugien bieten, miteinander kochen, essen, singen und tanzen. Gemeinschaft pflegen, Erinnerungspraxis pflegen und nach guten Lösungen für Notwendigkeiten suchen. Und ganz bestimmt ist uns das alles einigermassen gelungen – glücklicherweise auch im internationalen Netzwerk. Vielleicht weil Terreiro-Wege auf diesen Prinzipien aufbauen und sie nicht nur in Notzeiten aktiviert werden müssen?
Und vermutlich gibt es ja, wie immer viele «Gründe», viele Zuspieler, viele Helfer. Ihnen allen bin ich dankbar, dass wir weiter wirken und forschen können und weiter lernen, die Welt mitzugestalten.

Ein weiterer Beitrag zu diesem Thema: Ritual & Welt - Freunde finden und pflegen >
 




Kommentare

03.09.2021 | Katalin Hepp

Sehr schön und toll geschrieben



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