15. Januar 2021, Konstanze Thomas und Coautor*innen
Im Jahreswechsel 2019/2020, noch gerade knapp bevor Corona Europa erreichte, hielt Iyalorixá Habiba de Oxum einen Vortrag mit dem Titel "Ritual & Welt". Die Grundstruktur dieses Inputs bildeten 8 Handlungsräume oder Perspektiven, in denen sich, wie der Vortragstitel in Aussicht stellt, ein Zusammenhang zwischen dem Ritual und der sozialen, auch politischen Welt finden lässt: * Freunde finden und pflegen * Erdverbindung leben * Vielfalt trainieren * Refugien schaffen * Gemeinschaften bilden * Praxis lebendiger Erinnerung üben * Körpergedächtnis aktiv halten * Ritualsprachkunst *
Vielleicht wird hier auch mehr gefragt, als festgestellt: Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem, was Menschen erfahren, die einen Einweihungsweg in der Terrasagrada gehen und ihrer Art der Mitwirkung am Weltengeschehen? Wohin schauen wir, worauf legen wir Wert, zu welchen sozialen oder gesellschaftlichen Fragen tragen wir etwas bei, welche Phänomene beeinflussen unser Tun, woran orientieren wir uns?
Mich persönlich inspirierten diese Gedanken sehr. So möchte ich sie in der Serie "Ritual & Welt" in den nächsten Monaten hier aufgreifen und jedes Mal Filhas und Filhos mit einladen, persönliche Einblicke und Resonanzen dazu zu teilen. Wir würden uns über zusätzliches Stimmen oder Erfahrungen von Gäst*innen, Freund*innen, Mitwirkenden und regen Austausch im Kommentarteil ganz unten freuen. Beginnen möchte ich mit dem Thema * Freunde finden *
Makota Konstanze, Stein AR
Vor 15 Jahren lockte mich das Leben hierher in die Schweiz, weg aus meinem so genannten Heimatland. In meiner Wahrnehmung war es tatsächlich ein „so genanntes“ Heimatland. Durch die staatlichen und gesellschaftlichen Veränderungen in der ehemaligen DDR ab 1989 hatte sich soviel verändert, dass ich meine Heimat nicht mehr so kompakt wahrnehmen konnte, wie mir lieb gewesen wäre. Mir war das damals nicht bewusst, ich folgte einfach einem Zauber und fühlte mich hier bald mehr zu Hause als dort. Aber es blieb etwas unaufgeräumt in mir.
Mein Weg führte mich über die Jahre durch viele Momente meiner Biografie, liess mich hinschauen, aufarbeiten, neu erzählen. Wie in einem Bann musste ich auch immer und immer in die unmittelbare Geschichte des Landes eintauchen, in das ich geboren wurde, die ja bekanntermassen geprägt war von Ideologie, Totalitarismus und Machtapparaten. Über die Jahre war ich manchmal auch genervt „Schon wieder!“ und allmählich auch ratlos, denn ich kam nirgens hin oder an, aus diesem Kreis nicht heraus. Ein Ebenenwechsel stand an, das spürte ich, aber wohin und wie?
Wieder einmal mit persönlichen Themen beschäftigt, die ich aus meiner Sozialisation mitbrachte, suchte ich bei einer Entität Rat und bekam den Auftrag, einen oder mehrere Bäume zu pflanzen. Ich entschied mich schnell für Lärchen, die – zumindest war so meine Erinnerung – mir als Kind Lieblingsbäume waren. Heute liebe ich sie wegen ihres zarten Grüns und dem goldenen Herbstkleid. Aber damals verschafften sie mir im innerfamiliären Pilzsammlerwettstreit einen echten Vorteil: unter ihnen standen in wunderbarer Häufigkeit grosse Goldröhrlinge.
Während ich auf die gute Pflanzzeit für diese Lärchen im Frühling wartete, geschah in einer Gira Unerwartetes. Meine Cabocla war zusammen mit anderen für eine Tanzpassage eingeladen. Aber in die sichere Erwartung ihrer Drehungen mischte sich an diesem Tag Neues ein. So klar und vehement, dass ich nicht anders konnte, als dieser Bewegung – überrascht und neugierig – zu folgen. „Ein Freund des Waldes“, versuchte ich kurz darauf in Worte zu fassen was mich ergriffen hatte. Er kam wieder, einige Tage später, noch klarer. Es war irgendwie verrückt, wundersam. Und richtig gut und innig und direkt und einfach „Wow“ mein Körper- und Lebensgefühl nach diesen Inkorporationen. Oxossi?
In diesem Sommer verbrachte ich zwei Wochen in Deutschland. Das hatte sich „gefügt”, so wie sich Leben manchmal fügt, geplant hätte ich das selbst bestimmt nicht. Kaum war klar, das ich in die so genannte Heimat reisen würde, war ich wieder beschäftigt mit den alten Geschichten. “Vielleicht bringt es mich dieses Mal weiter“, dachte ich noch.
Ein paar Tage war ich an der Ostsee und wer uns begegnete, faszinierte und beschäftigte, war der Wald. Wald als Versteck, Wald als Jagdrevier, Wald als Machtinstrument, Wald direkt am Meer.
Ein paar Tage in der Mecklenburger Seenplatte… Eichenwälder, Waldsee… sogar ein fallender Baum in unmittelbarer Nähe. Und was für ein Frieden in den Heiligen Hallen, einem sehr alten Buchenwald in dem wir eine Stunde still und gehalten an einem Baum lehnten und ins grüne Dach staunten. Eine Reise durch Brandenburg und soweit das Auge reicht Kiefernwälder auf Sandboden. Und schliesslich einige Tage quer durch den Thüringer Wald… Standen diese Bäume schon immer hier, war schon immer soviel Wald in meiner Heimat?
Zuück im Appenzellerland. Ich denke an Deutschland: Wald. Zwei Tage später: Wald. Drei Wochen später: Wald. Keine Menschen, keine Geschichte, keine Ideologie. Deutschland ist ein grosser Wald in meinem Kopf. So frei und gross wie die Buchen in Mecklenburg. Saravá Senhor Oxossi. Oke Arô!
Und mit diesen Bildern erreicht mich ein neues Bewusstsein. Auf einmal bin ich verbunden mit Sammlerinnen und Jägerinnen vor vielen tausend Jahren: ich bewege mich mit ihnen, habe einen anderen Blick, trinke anders aus der Quelle, sammle Pilze und fast hätte ich Vogelbeeren probiert vor Glück über das schöne Rot. Ich stelle mir vor einfach hier draussen zu leben wie sie und wie ich mit ihnen ums Feuer sitzen könnte und mit einer Knochennadel Fell zusammennähen. Die Häuser und Dörfer scheinen auf einmal ziemlich absurd, surreal geradezu. Und erst Recht Verwaltungen und Kantone und Ländergrenzen. Und Kriege und Diktaturen. Wo sind wir da nur gelandet?
Ich freue mich und bin dankbar, dass ich einen Faden in diese Zeiten spinnen konnte. Und habe neue Freunde: den Wald, die Sammlerinnen und drei Lärchen im Terreirogarten.
Iya Ebomin Riki, Graz
Ja, das kenne ich gut, diese Freunde aus dem Wald, den man oft vor lauter Bäumen nicht sieht. Sie sind mir immer Freunde, im Garten immer wieder rufen sie mir zu, begrüßen mich, senden die singenden Boten, andere Freunde, die Vögel, bei jedem Greifvogel muss ich ganz selbstverständlich meinen Caboclo grüßen, Sarava Pai Guaracy Pandaya Oxossi, auch ein alter Freund, der mich wohl schon mein Leben lang begleitet mich schützt und immer wieder den rechten Weg weisst, Möglichkeiten eröffnet mich einfach liebt. Axe und Sarava ihr Freunde im Wald, in der Macaia, im Terreiro. (Interview mit Iya Ebomin Riki, Mai 2020)
Sylvia Thoma, Co-Kekerê, Bern
Wenn ich an meinen Weg und die bisherige Zeit in der Orixatradition zurück denke, kommen mir zum Aspekt Freunde finden und pflegen zuerst die Menschen in den Sinn.
Obwohl, an der ersten Veranstaltung von Terra Sagrada kannte ich praktisch niemanden ausser meiner Freundin, die mich mitgenommen hatte, aber ich erkannte, dass dies eine lebendige Gemeinschaft ist, mit so ganz unterschiedlichen Menschen von Alter, Herkunft und Lebensart her. Was mich damals packte war die Musik, vor allem ein Trommelrhythmus. Wir tanzten zu verschiedenen Rhythmen und dieser belebte mich, floss einfach durch meinen Körper in meine Füsse. Ich fühlte mich zu ihm hingezogen, war neugierig und wollte mehr über ihn erfahren, im Sinne von mit ihm Tanzen.
Die menschlichen Freunde waren nicht sofort da. An den ersten Giras, an der ersten Camerinha fühlte ich mich sogar recht fremd, manchmal fehl am Platz. Ich kannte ja nur einzelne und was sie miteinander teilten, war mir nicht vertraut.
Aber gerade in solchen Momenten gab es jemand, der mich fragte wie es mir geht, ob ich was helfen möchte oder mich an die frische Luft mitnahm, um mich aufzumuntern und es bahnten sich Beziehungen an.
Die Rituale waren für mich zu Beginn unverständlich und doch so innig und freudig, so dass ich immer mehr das Gefühl bekam, ein Teil dieser Gemeinschaft zu sein und dazu beizutragen, obwohl ich neu und unwissend war.
So kam diese und jene verbindende Erfahrung dazu, oft bestand sie aus einen Blick, einem gemeinsamen Lied, einer lustigen Begebenheit und diese Erfahrungen begannen sich zu verweben, wie ein Netz. Einzelne Menschen wurden auch im Alltag zu Freunden, mit anderen beginnt sofort anregender Austausch, wenn wir wieder aufeinander treffen und dann sieht man sich lange nicht mehr. Und mit wieder anderen fühle ich mich sehr verbunden, obwohl wir kaum ein Wort miteinander gewechselt haben und uns ausser dem gemeinsamen Tun in den Camerinhas nicht viel verbindet.
Wie ich nach einem passenden Bild für das Finden und Pflegen dieser Freundschaften suchte, kam ich auf das Netz, ein Fischernetz vielleicht. Denn wenn ich einen Menschen aus dieser Gemeinschaft treffe, wo auch immer, so sind da nicht einfach wir zwei. Dieser Knoten ist mit vielen Fäden und anderen Knoten verbunden und diese beginnen zu schwingen, so dass dann viele Fäden schwingen, die wieder andere Knoten wecken. Dies können Menschen sein, die dabei waren in bestimmten Momenten, es sind aber auch der Platz mit dem Feuer, der glitschige Weg zum Fluss oder der Tanz des Orixas, der Kräuterduft, der den Raum erfüllte, das Lied am Morgen oder die brennende Kerze in der Klausur.
Es scheint mir, dass indem wir erzählen, uns erinnern, dieses Netz lebendig wird und eine Art Dorf entsteht, mit allem was dazugehört, auch diese nicht menschlichen Wesen, das Haus, die Plätze, die Naturkräfte. Ich habe eine Dorfgemeinschaft geschenkt bekommen, ein Dorf, in welchem ich manchmal physisch lebe und manchmal einfach eingewoben bin. Indem ich Menschen treffe, Rituale feiere, beginnt es zu leben.
Seit meinem ersten Tanz habe ich, vor allem mein Körper, meine Füsse, viele Rhythmen kennengelernt und die Tänze, die vergangenen und die zukünftigen sind für mich die schönste Möglichkeit all diese Verbindungen und Freunde zu pflegen und immer wieder neue zu finden.
* Freunde finden und pflegen * Erdverbindung leben * Vielfalt trainieren * Refugien schaffen * Gemeinschaften bilden * Praxis lebendiger Erinnerung üben * Körpergedächtnis aktiv halten * Ritualsprachkunst
Was geschieht, wenn ich schreibe und meine kleine Welt in die große zu stellen wage?
Vor wenigen Wochen wurde ich an einen neuen Ort verweht – in den Norden, kleine und große Seen eine halbe Autostunde entfernt; dahin, wohin ich wollte. Die süßen Wasser übten von jeher einen großen Zauber auf mich aus. Immer fühlte ich mich erfüllt dort, kaum gab es Tage die ich im Boot auf dem Wasser wandernd nicht in einer großen inneren Freiheit verbrachte – die wenigen Habseligkeiten überschaubar in diesem schwimmendem Raum mit mir verstaut.
Nun bin ich hier und fühle nicht dieselbe Freiheit, vielmehr Ausgesetzsein. Ich lasse es zu, die Gedanken spielen... Was ist anders? Was fehlt?
Klar hat auch dieses Mecklenburg zu Corona-Zeiten ein anderes Gesicht: man trifft nicht auf Menschen in einem Café am Ende der Wanderung; in der kleinen Ansiedlung, in der ich zunächst wohne, ist nur hin und wieder der eine, die andere auf den Wegen zwischen den Häusern zu sehen, in meinem Arbeitsprojekt stellte ich mir mehr Teamwork vor. Aber ich hatte mich darauf gefreut: die Stadt verlassen, auf Stille und wirkliche Dunkelheit, klarere Luft als sie es im Dresdner Elbtal ist.
Es gibt ein Stück Papier mit einer Liste von Freunden, die ich versprach anzurufen, wenn ich im Norden angekommen bin. ... die ich hin und wieder tatsächlich anrufe. Und es gibt Gespräche - alle sind – (zumindest von Wort zu Wort über das Telefon) bei mir. Dennoch habe ich das Gefühl, dass ich dieses Dorf nur betreten kann, in Kontakt mit der Gemeinschaft sein kann, wenn ich meinen Platz gefunden, mein Haus eingerichtet habe.
Dann treibt mich etwas anderes um? Bei meinen ersten Ausflügen auf die andere Seite der Bundesstraße in die Wälder des Müritz-Nationalparks ändert sich mein Gefühl, geht es mir besser. Warum? Und irgendwann holt mich diese große Sehnsucht ganz bewusst ein – die nach dem Wald, Bäumen! Damit gehe ich bewusster in die Welt und taste nach, fühle hin...
Ja, bei dem Anblick von Bäumen wird mein Atem tiefer. Sie scheinen mir zu spiegeln, was fehlt – die Verbindung zwischen Himmel und Erde. Bewusst gehe ich weiter, sitze am See in der Sonne, mit dem Rücken an eine alte knorrige Weide gelehnt. Der Lebensstrom fühlt sich sogleich wärmer, weicher, flüssiger an – dort könnte ich sehr lange sein; doch am Ende des Tages fahre ich dennoch zurück in die Ansiedlung inmitten einer Feldlandschaft...
Es sind sicher auch meine Habseligkeiten und kleinen Alltagsschätze, die mir in dieser fremden Wohnung fehlen und die ich zunächst zurückgelassen habe. Aber mehr noch sehne ich mich plötzlich nach den heimatlichen Wäldern des Erzgebirgsvorlandes, in denen ich aufgewachsen bin. Als Kind war ich in diesen Wäldern unterwegs – zog umher, fand zuweilen auch Zuflucht, saß im Sommer schreibend am murmelnden Bächlein inmitten der Waldwiesen, zog im Winter mit den Skiern hinaus, um in die Stille des Waldes einzutauchen und zugleich wach zu werden für die Geräusche einer noch viel feineren Essenz.
Dieser Wald – so wird erzählt – wurde von einem Stamm gerodet, der von einem Mann namens Hecil, dorthin geführt wurde. So entstanden in der Nähe einer alten Handelsstraße die ersten kleinen Dörfer am Rodelandbach – ein Dorf namens Hecils Dorf (später Hetzdorf) und jenes in der niederen schönen Au (später Niederschöna). In letzterem – einem Waldhufendorf – verbrachte ich meine Kindheit, zog mit meinem Großvater auf der Suche nach Pilzen in den Wald.
„Wie ein Stück Holz auf dem Fluss treiben...“ kommt mir gerade in den Sinn. Wo vermag ich mich einzumitten zwischen den Wäldern und dem fließenden Wasser. Was lässt mich losgehen und was braucht es, um mit dieser Wald-Essenz in den Zellen, in anderen Wäldern, an den Flüssen zu siedeln? Die Frage bleibt. Momentan gibt es zumindest das Gefühl, dass die Bäume mir Schwestern und Brüder sind. Das teile ich hier und mit Euch.
Mein Dank für dieses Anregung zu diesem Thema, dass mich auf eine weitere Reise gehen ließ.