2. Oktober 2017, Hans-Peter Hufenus
Pedi ao céu
Uma estrela para me guiar
E o céu meu respondeu
Que minha guia
É a estrela do mar
Dieses Lied stammt aus den afrobrasilianischen Orixatraditionen (siehe vorangegangene blog-Beiträge) und heisst übersetzt: Ich habe den Himmel darum gebeten, mir einen Leitstern zu zeigen; doch der Himmel antwortete mir, dass mein Führer der Seestern ist.
Was bedeuten diese Zeilen? Sie erzählen von der Gewissheit eines Menschen, dass es Zeichen gibt am Himmel, denen man folgen könnte. Obwohl die ursprüngliche Bedeutung eine ganz konkrete Orientierung meint, ist es klar, dass es sich um eine Metapher handelt. Gezeigt werden soll vom Himmel, welchen Lebensweg es zu beschreiten gilt. Bemerkenswert ist, dass keine Gottheit, keine Götter angefleht werden, sondern ein Raum. Und es ist der Raum, der antwortet! Und diese ist überraschend. „Deine Führung ist der Seestern“. Wie in jedem guten Orakel, gibt die Antwort ein neues Rätsel auf. Heisst dies, dass die Antwort auf die Frage, wohin es gehen soll, vor meinen Füssen liegt? „Folge den Zeichen, die dir der Alltag gibt!“
Wer das tut, ist zutiefst religiös, zumindest wenn unter dem Begriff Religion das verstanden wird, was Wikipedia sagt. Das Wort kommt von „religio“, was heisst „gewissenhafte Berücksichtigung“. In der ursprünglichen Bedeutung „die gewissenhafte Sorgfalt in der Beachtung von Vorzeichen“.
Es scheint so etwas wie ein Erwachen zu geschehen, dass sich immer mehr Menschen – vor allem Frauen – von den Dogmen der patriarchalen Schriftreligionen abwenden und wieder mehr den Zeichen der Natur folgen wollen. In unserem Beratungs- und Therapiealltag hören wir Leute häufig den erstaunlichen Satz sagen: „mir schwebt ein Leben in einem Kloster vor“. Nun handelt es sich bei diesen Menschen keineswegs um Personen, die ein Leben in Entsagung, ohne Sexualität, ohne Lebensfreude und irdische Zugehörigkeit suchen, im Gegenteil. Aber wieso sagen sie so etwas? Was für eine Sehnsucht liegt dahinter?
Ist es die Sehnsucht nach einem Leben ohne ökonomischen Druck, einem Leben in einer leiblich präsenten Community, einem Leben, wo nicht der Konsum die sinnstiftende Lebensausrichtung ist, einem Leben, das sich nicht in der Aufzucht von Kindern erschöpft, einem Leben mit erdverbundenem Arbeiten, einem Leben in spiritueller Grundstimmung, ein Leben als Initiation? Vielleicht einfach ist dieses „Kloster“ ein Ort, wo man ein religiöses Leben führen kann; wo der Seestern zu uns spricht und wir uns seiner Führung anvertrauen können.
Es sind Menschen, die die Nase voll haben von der kapitalistischen Leier, dass wir doch die glücklichsten Menschen sein könnten, wenn wir nur dies und das noch kaufen. Sie halten die Scheinwelt nicht mehr aus bei der Fahrt mit der Strassenbahn, wo nur die Menschen auf den Werbeplakaten lächeln.
Ist dieser aktuell hörbare Ruf nach einem klösterlichen Leben ein erster Hauch eines – nach der vermeintlich gescheiterten 68er Bewegung neuen Versuchs eines Aufbruchs zu einer besseren Welt? Er hat das Zeug dazu. Die Idee eines „klösterlichen“ Lebens entzieht sich von vornherein einer drohenden Vereinnahmung durch Politisierung und Kapitalisierung. Es proklamiert, und das ist seine grosse Stärke, nichts anderes als ein Leben, das in unseren Genen vorgesehen ist.
Das ist der grosse Unterschied zur 68er Bewegung. Damals handelte es sich um rein utopische Ideen, kein Mensch wäre auf die Idee gekommen, dass es sich bei dieser Aufbruchsstimmung um eine kollektive, archaische Erinnerung handeln könnte. Der Wunsch nach einem guten Leben oder, um mit Hartmut Rosa zu sprechen, eines „gelingenden Lebens“, ist eine Wirklichkeit, die über Hundertausende von Jahren uns Homo Sapiens geprägt hat.
Diese Erkenntnis ist neu in der jüngeren Menschheitsgeschichte, sie wurde seit der Vertreibung aus dem Paradies geleugnet. Aber die jüngere Archäologie mit ihren Kombinationsmöglichkeiten mit der Genforschung und der Isotopenanalyse bringen es an den Tag: das goldene Zeitalter, von dem so viele Mythen erzählen, hat es tatsächlich gegeben, und es hat verdammt lange gedauert; lange genug, um in unseren Genen festgeschrieben zu sein.
Und nun sind wir in eine Welt gestellt, für die wir gar nicht geschaffen sind, sagen die Anthropologen van Schaik und Michel in ihrem „Tagebuch der Menschheit“. Und sie beschreiben in dem Buch auch den Engel, der den Eingang zum Paradies mit dem Feuerschwert bewacht als „Hybridwesen mit einem zur Gestalt gewordenen Blitz“.
O.k., damit kann ich was anfangen: mit Hybridwesen kann ich reden und der Blitz ist für mich eines jener Zeichen, die ich zu beachten gelernt habe. So haben mir die beiden Autoren geholfen zu erkennen, dass es am Tor zum Paradies Verhandlungsspielraum gibt. Und so kam die überraschende Nachricht: wir können jederzeit zurück – noch! Die Bedingungen? Die Ursünde der Menschheit rückgängig machen, das ist der erste Schritt. Nur, was war die Ursünde? Carel Schaik und Kai Michel machen es in ihrem „Tagebuch der Menschheit“ deutlich: „nicht Sündhaftigkeit, sondern Überbevölkerung war der Grund“. (für die Vertreibung aus dem Paradies, S. 108).
Ich habe das mal ausgerechnet: Wenn wir ab sofort die Formel 4:2 anwenden würden, also vier Frauen zwei Kinder, werden wir im Jahre 3020 wieder so viele sein wie zum Zeitpunkt vor der Vertreibung aus dem Paradies. In nur gut tausend Jahren könnten wir wieder einen Zustand erreichen, der vor 10'000 Jahren sein Ende nahm, davor aber über mindestens 200'000 Jahren angedauert hat.
Das werde ich – mindestens in dieser Inkarnation – natürlich nicht mehr erleben. Aber was ich erlebe und mich mit Lebendigkeit erfüllt, sind die Zeichen, dass es jetzt auf diesen Zustand hinzuarbeiten gilt. Vorübungen sozusagen, um ein in unseren Genen angelegtes Kulturgut des menschlichen Lebens entgegen der Widerstandskräfte des Mainstreams zu üben und zu hüten.
Was genau es zu hüten und hegen gilt – auch da haben van Schaik und Michel einen einprägsamen Begriff vorgeschlagen: die „erste Natur“ des Menschen. Während die zweite Natur den aktuell inkulturierten Menschen meint, und eine dritte den Vernunftmenschen, meinen die Autoren mit der ersten Natur den genetisch angelegten Menschen. Und der ist, entgegen der dem herrschenden Dogma, egalitär und friedliebend. Diese Tatsache hat – es wurde schon erwähnt – die moderne Archäologie buchstäblich ans Tageslicht gefördert. Und sie wird ausserdem belegt in den aktuellen Studien noch heute lebender indigener Völker, allen voran der San Südafrikas, die älteste noch lebende Volksgruppe des Homo Sapiens.
An unserem mediterranen Forum “Initiation und Community“ in Griechenland (siehe Sonderveranstaltung) wird unter dem Titel „Firelight Talk“ eine Studie über die Gesprächsrunden im Licht des Feuers unter den San-Buschleuten der Kalahari-Steppe vorgestellt, welche uns interessante Hinweise darüber gibt, welche Bedingungen es braucht, damit menschliche Gesellschaften gerechte und friedvolle Kulturen aufrechterhalten können. Wir gehen dabei interessanten Fragen nach wie: Was bedeutet der rätselhafte Satz eines San-Elders: „We had a governement, that was the ember“? Was ist gemeint mit der Aussage: „Es haben mehr Menschen um ein Feuer Platz, als wir denken“? Was sagt die sogenannte Dunbar-Zahl aus über funktionierende egalitäre Communities?
Und weiteren interessanten Fragen werden wir in diesem Forum nachgehen: Was beispielsweise meint der Historiker Yuval Noah Harari, wenn er in seinem Buch „Eine kleine Geschichte der Menschheit“ schreibt, dass wir uns mit jeder Innovation ein Stück mehr vom Garten Eden entfernen? Und was meint der Soziologe Hartmut Rosa, wenn er von einer unaufhaltbaren, pathologischen Eskalationstendenz der postmodernen Gesellschaft spricht?
Beide Autoren bieten umfangreiche Analysen, aber wenig Visionen. Aber die oben angesprochene Sehnsucht nach einem „klösterlichen Leben“, bzw. nach dem, was wir Menschen mit unserer ersten Natur wären, nämlich soziale Wesen eingebettet in ein natürliches und religiös gestimmtes Leben ist eine. Sie beinhaltet das Konzept eines initiatorischen Lebens, das den Zeichen folgt, mit denen der Mythos zu einem spricht, und in einer Community lebt, die gelingendes Leben für alle möglich macht. Eine Community, die auch eine heilende sein kann - zu erleben in den Heiltagen in Griechenland.
Wer nicht an das Forum kommen kann - zukünftige Sanzala Veranstaltungen werden diese Themen auch wieder aufgreifen.