27. August 2017, Sinha Weninger
Es ist still geworden in den Bergen. Durch einige schöne Täler und steile Wälder bin ich diesen Sommer gekommen und hatte oft ein gespenstisches Gefühl. Vielfältig und schön, lebendig und kraftvoll ist mir der Raum begegnet und doch war etwas seltsam in ihm. Nach einer Weile habe ich verstanden, dass die Wasser fehlen. Vielerorts werden die Quellen und Bäche in Brunnen gefasst und in Kanälen geleitet, so dass dem Raum sein Rauschen abhandengekommen ist. Die akustische Welt mit der wir uns umgeben beschäftigt mich. Es beschäftigt mich, welchen Klangkörper, welches Gedächtnis und welche Beziehung wir uns nehmen, wenn wir beispielsweise die Bergbäche verstummen lassen.
Es beschäftigt mich in diesem Artikel auch, wie sich die Geschichte vom Menschen und der Welt rund um Musik, Rhythmus und Melodie entwickelt hat. Übrigens Wörter, die es in vielen zentralafrikanischen Sprachen gar nicht gibt. Melodie gehört zur Geschichte, zum Text. Rhythmus gehört zum Tanz, er ist! der Tanz. Und sowieso gehört im ursprünglich afrikanischen Kulturverständnis die Geschichte wiederum zum Tanz. „Man muss zur afrikanischen Musik tanzen, körperlich oder im Geist, um sie richtig zu verstehen“, schreibt dazu der Musikethnologe Andrew H. Gregory. Entsprechende Erfahrungen konnten an unseren Sanzala Musiktagen „O Sopro de Vento“ gemacht werden.
Aber zurück zur Geschichte der Musik. Liest man in den gängigen und eher populären Theorien über die Entstehung der Musik nach, werden üblicherweise folgende drei Theorien publiziert: 1) Frauen singen, um ihre Kinder zu beruhigen. 2) Musik ist Teil der sexuellen Fitness, um die Chancen auf der Balz zu erhöhen. 3) Musik stärkt die Gemeinschaft und festigt den Zusammenhalt von Gruppen.
Zweifelsohne beschreiben diese Theorien wichtige Wirkungen von Musik, von Gesang, von Rhythmus und Tanz. Gleichzeitig fehlt mir bei diesen Überlegungen ein wenig jene Tiefe, jener Urgrund, den ich selbst in der Musik so oft erlebe. Es bleiben Fragen offen in diesen Erklärungsangeboten: Woher kommt das Lied, mit dem die Mutter oder die Gemeinschaft ihre Kinder aufnehmen und behüten? Welche Verbindung haben die Füsse im gemeinsamen Ritual mit der Erde, dass sie einander genau in jenem, bestimmten Rhythmus finden? Und welcher Wind hat die Inspiration herangetragen, für den Moment zwischen Mann und Frau?
Man kann der Anthropologie wohl nur bedingt vorwerfen, dass sie in ihren Erklärungen auf die rein menschliche Welt beschränkt ist. Immerhin ist es mittlerweile wissenschaftlicher common sense, dass der Mensch seit mindestens 300.000 Jahren (Neandertaler) sowohl über die intellektuellen (Gehirn) als auch die organischen (Vokaltrakt) Voraussetzungen verfügt um zu sprechen und zu singen. Wir können davon ausgehen, dass die Fähigkeiten zu hören, zu tanzen, zu klatschen und mit Hilfsmitteln zu tönen deutlich früher vorhanden waren und relevant sind für die Beziehungsgestalt zwischen den Homos und der mehr als menschlichen Welt.
Jedes Kind im Mutterleib ist vom ersten Moment des Lebens an eingebettet in Rhythmus und in Klang: Der Puls des Blutstromes, Atemklang, Darmgeräusche und klingende Körperbewegungen. Die Stimme der Mutter, die nicht nur von Aussen, sondern richtiggehend verstärkt über die Knochen der Wirbelsäule und den Beckenring zum ungeborenen Kind gelangt. Der Herzschlag der Mutter, die wohl urälteste Dreier-Rhythmik, begleitet jeden Menschen durch Schwangerschaft, Geburt und die Zeit des In-die-Welt-Kommens. Es ist aus dieser Perspektive eindeutig, dass Melodie und Rhythmus von Anfang an mit dem Menschsein verbunden sind.
Abseits von Geschichte und Biologie berichtet darüber auch die Mythologie. Denn die Ursprünge der Musik haben in den Mythen vieler Völker ihren Platz. Geschichten aus aller Welt erzählen davon, dass Musik so schön und so tief ist, dass weder die Töne noch die Instrumente von Menschen erfunden oder gemacht sein können. Sie müssen von den Göttern kommen. Initiatorische Gestalt erzählt vom Ergriffensein, von einem ganzheitlichen, leiblichen Verbundensein mit der Welt und den Kräften des Moments, für das ein Lied, ein Tanz zum seelischen Ausdruck wird. Dann gibt es Geschichten, in denen Gesang als Mittel des Kontakts und der Verbindung, auch als Gabe und Geste an die Götterwelt zum Einsatz kommt: Orpheus, der wilde Tiere, aber auch Felsen, Wälder, Flüsse, Hagel und Schnee mit seinem Gesang für die Menschen gewinnt. Die Râgas, Tonleitern und Melodien der indischen Musik, die bestimmten Emotionen, Zeiten und Göttern gewidmet sind, oder die arabischen Mâquâmats die wegen ihrer spezifischen Wirkungen ebenfalls nur zu bestimmten Zeiten und für bestimmte Menschen gesungen oder gespielt werden.
In den uns vertrauten Orixatraditionen (eine im Ursprung westafrikanische Weltreligion verbunden mit heiligen Naturkräften) hat bestimmt Oxum (eine weibliche Kraft der süssen Wasser) als Hüterin der Künste ihre Finger im Spiel, wenn es um die Musik geht. Aber auch andere göttliche Kräfte wie Oxumaré oder Xangô sind mit künstlerischem Ausdruck, traditionellen Instrumenten und musischer Ästhetik verbunden. Als initiierte Trommlerin, in dieser Tradition Ogã genannt, kenne und lerne ich rund 500 verschiedene Lieder und mehr als 20 unterschiedliche Rhythmen um in Resonanz mit den vielfältigen Momenten unserer Rituale singen und spielen zu können.
Innerhalb dieser sakralen Musik gibt es auch Lieder die Anleitung geben, was und welche Kräfte in spezifischen Momenten wichtig sind oder was innerhalb der rituellen Struktur zu tun ist. Manche Lieder sind verbunden mit der Tradition der „Worksongs“, jener weltweit zu findenden Sammlung von Gemeinschaftsgesängen, die zur Erleichterung bei der Arbeit gesungen werden. Eben genau weil Musik nicht nur als eine erfundene Kulturleistung des Menschen verstanden werden kann sind diese Lieder interessant. Beim Laufen bewegen wir die Beine rhythmisch und die Arme schwingen rhythmisch mit. Unser Atem, und Herz unser Puls trägt rhythmische Struktur und vor allem mechanische Tätigkeiten fügen dieser Polyrhythmik weitere Patterns und Klangstrukturen hinzu. Stampferinnen, Schmiede, Spinnerinnen, Matrosen, Trägerinnen, Sammelnde, Sägende oder Webende sind in ihrem unmittelbaren Tun in dieses Orchester der Menschen, der Dinge und des Raums eingebunden. An dieser Stelle sei der der vielfach gültige Hinweis angebracht, wie wichtig die Pause für Rhythmus und Musik ist.
In noch älteren Formen der Worksongs haben sich beispielsweise Jägerinnen und Jäger durch Tanz und Klang auf ihre Jagdbeute und den Raum der bevorstehenden Jagd eingeschwungen. Durch musikalische Strukturen und rituellen Tanz wurden sie in den notwendigen Bewegungen geschult, im Hören und Nachahmen an die Laute der Tiere und den Klang der Umgebung erinnert. Die Synchronisation von äusserem und innerem Rhythmus stärkte die gemeinsame Ausrichtung, informierte die beteiligten Kräfte über das Vorhaben und liess Mensch, Tier und Raum ganz unmittelbar und körperlich zur Gemeinschaft werden.
Lynne Kelly beschreibt in ihrem Buch „The Memory Code“ solche Szenen und wie Lieder, Poesie, Geschichten, Tanz und Rhythmus indigenen Völkern bis heute helfen eine Unmenge an Informationen über ihren Lebensraum, den Dialog mit den Pflanzen, Tieren und Dingen die zu ihrem Leben gehören zu pflegen.
In den oral gehüteten „Encyclopaedic Memories of the Elders“ werden Wetterphänomene und wiederkehrende Zyklen ebenso lebendig gehalten wie Wege quer über den Kontinent, gemeinsame Rituale mit Nachbarn die eine andere Sprache sprechen oder Notfallpläne für jene Naturkatastrophen mit denen zuletzt vor vielen Generationen ein Umgang gefunden wurde.
„Everything got a song, no matter how little, it’s in the song – name of plant, birds, animal, country, people, everything got a song“, zitiert Kelly, eine Vertreterin der Yanyuwa aus Nordaustralien.
Um heilige Orte, wichtige Wasserplätze oder einen sicheren Unterschlupf zu finden, zu jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter, brauchte es mehr als die Kenntnisse der Sterne. In sogenannten Songlines oder Dreaming Tracks werden Landschafen und Naturräume über viele hunderte Kilometer verbunden. Ich kann mir gut vorstellen, dass in diesem Singen nicht nur markante Merkmale der Umgebung und die chronologische Wegführung, sondern auch die naturgegebenen Töne im Raum, die Rhythmen der Landschaft und der Kräfte, die in ihnen wirken, eingeflossen sind. Was würde das Erinnern, der oft aus vielen Strophen bestehenden Songlines einfacher machen, als jene Klänge aufzugreifen, die der Raum anbietet. Verstanden als Dialog mit der Umgebung wird das Wegfinden zu einer Beziehungsgestalt in der zweifelsohne auch Absicht, Erlaubnis und Resonanz bedeutsam sind.
„Each location acted as a subheading for the knowledge encoded in the ritual performed at the location. Vivid stories at each of these sacred sites told of the mythological ancestors who created the landscape, the animals, plants an everything in Country. Everything was linked. Everything had a place and was named and known“, schreibt Lynne Kelly.
Die Welt in ihrer vielfältigen elementaren Gestalt singt und tanzt durch uns, wenn wir ihr uns dialogisch zuwenden. In ihr und in uns klingt der Weg zur nächsten Quelle, zur sicheren Höhle, zum essbaren Strauch. Es geht hier aber noch um viel mehr als eine geniale Technik Informationen zu erinnern. Wir finden uns in diesen dem Raum verbundenen Liedern und Gesten berührt, zugewandt und angesprochen. Es sind Wiegenlieder der Schöpfungskräfte, die uns jene Verbindungen und jene Impulse offerieren, die hier und jetzt bedeutsam sind. Musik fängt in diesem Sinne dort an zu existieren, wo Vergangenes und Gegenwärtiges in Beziehung sind.
Quellen
Spitzer, Manfred (2002): Musik im Kopf. Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk
Kelly, Lynne (2016): The Memory Code. Unlocking the Secrets oft the Lives oft the Ancients and the Power oft the Human Mind