3. August 2020, Brigitte Borchhardt-Birbaumer und Alexandra Schantl, Bearbeitung: Dorothea Kurteu
Dieser Text ist eine Kurzfassung einer ausführlichen Arbeit der Kunsthistorikerinnen Brigitte Borchhardt-Birbaumer und Alexandra Schantl zu Leben, Wirken und Werk Susanne Wengers im Rahmen der Ausstellung "Ausnahmefrauen - Christa Hauer, Hildegard Joos, Susanne Wenger" im Niederösterreichischen Landesmuseum 2014.
Wir danken den beiden Autorinnen für die Erlaubnis der Veröffentlichung.
Susanne Wenger war in jeder Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung – als Künstlerin, als Persönlichkeit, als Frau. Eine Konstante in ihrem Leben und Schaffen war ihr stark ausgeprägter spiritueller Bezug zur Natur. 1915 als Kind eines aus der Schweiz stammenden Gymnasiallehrers und einer k.u.k.-Offizierstochter in Graz geboren, wuchs sie in städtisch-bürgerlichem Milieu auf, ging aber lieber ins Grüne als in die Schule oder war mit den „Wandervögeln“ unterwegs. Sowohl während der Ausbildung an der Kunstgewerbeschule in Graz als auch später in Wien, wo sie zunächst die Graphische Lehr- und Versuchsanstalt besuchte und von 1933 bis 1935 an der Akademie der bildenden Künste studierte, unternahm sie immer wieder ausgedehnte Wanderungen, zog sich zur inneren Einkehr oft tagelang in die Berge zurück, um Inspiration und Energie zu schöpfen. Selbst ihr Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime war gewissermaßen spiritueller Art und äußerte sich in der Auseinandersetzung mit Schamanismus, Psychoanalyse und den Theorien des Surrealismus. Sie verkehrte in linksoppositionellen Kreisen, war aber nicht politisch aktiv, sie half politisch Verfolgten, obwohl sie selbst in prekären Verhältnissen lebte. Die Verarbeitung all dessen manifestierte sich in surrealen, ikonografisch schwer zu deutenden Bildern, mit denen sie riskierte, als „entartete Künstlerin“ eingestuft zu werden.
Nach dem Kriegsende arbeitete Susanne Wenger als Illustratorin für eine Kinderzeitung des kommunistischen Globus-Verlags und veröffentlichte in der von Otto Basil herausgegebenen Kulturzeitschrift „PLAN“ zwei ihrer 1943/44 entstandenen surrealen Buntstiftzeichnungen, die als das Werk „eines geistig nicht normalen Menschen“ abqualifiziert wurden und für empörte Reaktionen sorgten. Obwohl Wenger als Mitbegründerin des österreichischen Art Club (1947) in die Avantgardeszene der frühen Nachkriegszeit integriert war, hatte sie das Gefühl, künstlerisch hier keinen Platz zu finden; am gesellschaftlichen Leben nahm sie wenig Anteil.
1948 wurde Susanne Wenger schließlich von einem Freund ihres Vaters in die Schweiz eingeladen, wo sie in Zürich auf den Maler und Kunsthändler Johann Egger (alias Hansegger) traf, der sie in die Gruppe Abstrakt-Konkret aufnahm und ihre Bilder erwarb. Seinem Rat folgend, zog sie 1949 nach Paris weiter und lernte dort den deutsch-britischen Sprachforscher Ulli Beier kennen – eine Begegnung, die in Susanne Wengers Leben einen Wendepunkt markiert. Beier hatte zu diesem Zeitpunkt Aussicht auf eine Lehrstelle an der Universität von Ibadan in Nigeria, wobei sich bald herausstellte, dass der Posten nur an Verheiratete vergeben würde. Also ließen sich die beiden trauen, ohne dies vorher ernsthaft in Erwägung gezogen zu haben, und brachen gemeinsam nach Afrika auf.
Die Ankunft in Ibadan war zunächst eine herbe Enttäuschung, da das koloniale, auf die europäische Kultur fokussierte Gesellschaftsleben auf dem abgeschotteten Universitätscampus in keiner Weise den Erwartungen entsprach. Ulli Beier wechselte daher an das Department of Extramural Studies, um Englischkurse in verschiedenen Städten zu halten und so mit den Einheimischen in Kontakt zu kommen. Diese Lehrtätigkeit führte ihn 1951 unter anderem nach Abeokuta, wo es eine psychiatrische Anstalt gab, deren desolater Zustand ihn so schockierte, dass er und Susanne Wenger für die Patienten wöchentlich stattfindende Malkurse organisierten. Inspiriert durch Hans Prinzhorns 1922 erschienenes Buch Bildnerei der Geisteskranken, das Beier durch seinen Vater, der selbst Arzt war, gekannt hatte, zeigten sie die Ergebnisse ein Jahr später unter dem Titel „Psychotic Art“ in der Universitätsbibliothek von Ibadan. Dieses Projekt war einerseits wegweisend für Beiers Workshops, die er ab den 1960er-Jahren zur Kreativitätsförderung der lokalen Bevölkerung in Oshogbo initiierte, und belegt andererseits sein eigenes und Susanne Wengers Interesse an dem Diskurs rund um den Begriff der „Art brut“, den der französische Künstler Jean Dubuffet in den 1940er-Jahren geprägt hatte. Dubuffet verstand unter Art brut eine subversive, alternative Kunstform, wie sie nur jenseits kultureller Normen und abseits einer akademischen Ästhetik entstehen kann. Während Ulli Beier dieses Konzept weiterverfolgte und später in Oshogbo eine Experimental Art School für Laien gründete, aus der eine erfolgreiche Generation nigerianischer Künstler hervorging, fühlte sich Susanne Wenger immer stärker zur Yoruba-Kultur hingezogen.
Doch bevor sie diese näher kennenlernen konnte, erkrankte sie 1951 an offener Tuberkulose, die sie monatelang ans Bett fesselte. Während ihrer Genesung las sie anthropologische Bücher über die Yoruba und malte im Liegen auf kleinen Holztafeln fantastisch überhitzte Gestalten von greller Farbigkeit und Ekstatik. Wie die frühen Bilder zeigen, hatte sie zu diesem frühen Zeitpunkt bereits „erkannt, daß Afrikanisches sich nicht in der Darstellung einer Form, sondern in der Verwandlung der Formen, in deren tätiger Umgestaltung, […] erschließt“, was aber keinesfalls Selbstzweck sein durfte, sondern „lebensverstärkend dem Leben dienen“ sollte (Janheinz Jahn in: Beier 1980, S. 44).
Nachdem sich Wenger von ihrer schweren Krankheit erholt hatte und von einer Europareise zurückgekehrt war, zog sie in die Stadt Ede, wo es zu einer schicksalhaften Begegnung mit Ajagemo, dem Oberpriester des Lichtgottes Obatala, kam. Dieser erkannte ihr „archaisches Bewusstsein“ und wurde zu ihrem Lehrmeister und geistigen Vater: „Dieser Priester brachte mich gleich in Situationen, in denen ich nicht erst lernen konnte, sondern die ich meistern mußte. Lange bevor ich es ahnte, hat er schon gewußt, was ich machen würde. Er legte mir gleich große Verantwortungen auf, weil er spürte, daß ich von Natur aus begabt war.“ (Chesi, S. 15) Was nun folgte, war ein jahrelanger, psychisch wie physisch extrem belastender Initiationsprozess, aus dem Wenger als Olorisha, einer Gottheit (Orisha) zugehörige Person, hervorging. Dies stellte gleichzeitig eine existentielle Krise für sie dar: „Ajagemo, dieser Vulkan, […] hatte religiöse Potenzen in mir abgelagert wie in einem Altarobjekt.“ (Denk, S. 38) Ihr ritueller Name lautete fortan „Adunni Olorisha“.
Zu dem Zeitpunkt, als Wenger in Nigeria ihre wahre spirituelle Bestimmung fand, war allerdings die traditionelle Yoruba-Religion, die sich durch eine ganzheitlich-animistische Weltsicht auszeichnet, infolge der Kolonialisierung und Missionierung bereits nahezu ausgerottet, beziehungsweise galt das, was davon noch übrig war, als primitiv und rückständig. Zudem hatten sich die nach westlichem Modell erfolgte Schriftfassung der afrikanischen Sprachen und die damit einhergehende Anglisierung zerstörerisch ausgewirkt und die Entwurzelung von der eigenen Kultur forciert. Die solchermaßen systematisch betriebene Zersetzung der ursprünglichen Einheit von Religion, Kultur und Gesellschaft führte letztlich auch zum Niedergang der Kunst, da die Künstler mit dem Zusammenbruch des Gemeinwesens ihre bis dahin fest umrissene Funktion und ökonomische Basis verloren. Als im Zuge der Kolonialisierung das ethnografische und religionswissenschaftliche Interesse an der „primitiven“ Kultur erwachte, gab es diverse versöhnlich gemeinte Bemühungen, das traditionelle Handwerk wiederzubeleben. So wurden zum Beispiel afrikanische Holzschnitzer – unabhängig von ihrer Glaubenszugehörigkeit – beauftragt, christliche Kunst im Yoruba-Stil zu produzieren, oder wurden an den High Schools als Kunsterzieher angestellt. Was daraus resultierte, war lediglich eine weitere Verwässerung der originären Kreativität, deren besondere Kraft und Inspiration ja an die ureigene Religion geknüpft war.
In dieser Situation richtete die Oberpriesterin der Flussgöttin Oshun einen Hilferuf an Susanne Wenger, dem die Künstlerin 1958 nach Oshogbo folgte. Aufgrund ihrer mittlerweile anerkannten spirituellen Autorität und der Erfahrung, die sie bereits andernorts mit der Instandsetzung von Schreinen gesammelt hatte, sollte Wenger den Heiligen Hain von Oshogbo vor dem drohenden Verfall bewahren. Unterstützt von einem jungen Handwerker, der ihr die Zementtechnik beibrachte, begann Wenger mit dem Wiederaufbau des nur noch als Ruine erhaltenen Idi-Baba-Schreins des Leidensgottes Sonponna, dessen Kultkreis sie selbst angehörte. Während sich Wenger bei der Architektur des Schreins an der ursprünglichen Bauweise orientierte, wählte sie für die in der Nähe platzierten Zementplastiken eine Formensprache, deren Dynamik ganz und gar nicht der skulpturalen Tradition der Yoruba entsprach.
Nach der Fertigstellung des Idi-Baba-Schreins stellte sich Wenger in den Dienst der Göttin Oshun, deren von Termiten zerfressener Hauptschrein dringend sanierungsbedürftig war. Vom Denkmalamt in Lagos mit Geldmitteln ausgestattet, beschäftigte Wenger zwei einheimische Maurer, mit denen sie als erste Maßnahme die Einfriedung des Heiligtums wiederherstellte. Dabei ermutigte sie ihre beiden Assistenten zu eigenständigen Reliefverzierungen. Als nächstes verlangte das Orakel der Göttin die Errichtung eines Portals – für Wenger eine besondere Herausforderung, da es nie ein Tor gegeben hatte und sie somit etwas völlig Neues erschaffen musste. Sie machte sich zunehmend ihre künstlerische Freiheit zu Nutze und versuchte – im Unterschied zur traditionellen Yoruba-Architektur, die auf Visualisierung der kosmologischen Bezüge verzichtet – die rituelle Bedeutung mittels der Form zu veranschaulichen. So schuf sie von den 1960er-Jahren bis in die 2000er-Jahre im und um den Heiligen Hain von Oshogbo einen Skulpturenkomplex, der aufgrund der einzigartigen Symbiose von Natur, Kunst und Religion Weltruhm erlangte.
Wenger ging bei den einzelnen Projekten, denen jeweils eine spezifische religiöse Funktion zugeordnet ist, nicht nach einem vorgefassten Plan vor, sondern beschrieb den Gestaltungsprozess vielmehr als rituellen Vorgang, in dessen Verlauf sie in meditativer Arbeit die richtige Form erkannte. Deshalb bezeichnete sie ihre Kunst als „New Sacred Art“ – ein Begriff, der zugleich auf die Gruppe ihrer Mitarbeiter bezogen war, die ihr bei der Umsetzung der aus Holz und Zement gefertigten Monumentalwerke zur Seite standen. Es handelte sich dabei um einfache Handwerker, die durch die intensive Zusammenarbeit mit Wenger ihre Kreativität entdeckten und allmählich eigenständig schöpferisch tätig wurden. Charakteristisch für die im Kollektiv erschaffenen Skulpturen und Schreine sind wuchernde, organisch wirkende, mitunter sexuell konnotierte Formen, die einen radikalen Bruch mit der traditionellen Yoruba-Ästhetik darstellen. Von der Idee beseelt, die spirituelle Bedeutung der alten Kultplätze könne nur mit neuen Formen reanimiert werden, empfand sich Wenger mit ihrem in Europa verwurzelten künstlerischen Gestaltungswillen weder als Eindringling noch als rechenschaftspflichtige Auftragnehmerin, sondern vielmehr als aktiven Teil eines Ganzen:
„Die Haine von Oshogbo waren zum Tode verurteilt, doch meine Überzeugung von der inneren Wahrheit der Yoruba-Religion war so stark, daß ich als lebendiger und moderner, nicht den Traditionen unterstellter Mensch das Gefühl hatte, ich müßte eine Kraftzentrale bauen, um diese Haine zu beschützen. Das konnte ich, weil ich so stark einbezogen war, nur mit meiner Expression erreichen. Ich war ja kein Angestellter, Bauarbeiter oder Architekt, meine Ergebenheit dieser Philosophie gegenüber war keiner Frage unterstellt, sie war eine Tatsache für mich und andere.“ (Chesi, S. 20 f.)
Wengers Aktivität hatte weitreichende Folgen und war daher nicht unumstritten. Für Ärgernis bei den christlichen und muslimischen Glaubensanhängern sorgte schon allein die Tatsache, dass die New Sacred Art tatsächlich den alten Orisha-Glauben stärkte. Das führte unter anderem dazu, dass das im Oshun-Hain geltende, auf einem Pakt mit der Göttin beruhende Fischerei-, Jagd- und Siedlungsverbot, das längst ignoriert worden war, nun plötzlich wieder ernst genommen und somit einer weiteren Devastierung der Haine Einhalt geboten wurde. Wengers Arbeiten, die immer wieder durch Vandalismus bedroht waren, aber auch von europäischen Beobachtern scharf kritisiert wurden, erregten jedenfalls weit über Nigeria hinaus große Aufmerksamkeit, was wiederum ab 1976, zumal mit der Inthronisation eines neuen Stadtkönigs, die Idee der touristischen Nutzung aufkommen ließ. Wenger widerstrebte diese Entwicklung zutiefst; sie setzte alles daran, solcherlei Pläne zu vereiteln, und wandte sich an das Department of Antiquities, das den Oshun-Hain einige Zeit zuvor zum nationalen Erbe erklärte hatte. Dies war der Auftakt zu einem jahrelangen Konflikt zwischen der Künstlerin und der Regierung, bei dem vor allem wirtschaftliche und politische Interessen im Vordergrund standen. Das Fest zu Ehren der Göttin Oshun etwa, das jeden August stattfindet, wurde aufgrund der hohen Besucherzahlen sogar mit Mekka oder Jerusalem verglichen und stellt somit einen wichtigen Wirtschaftsfaktor dar. Da Oshun als Göttin der Fruchtbarkeit zugleich für Wohlstand steht, widerspricht es auch nicht der religiösen Überzeugung, aus den Feierlichkeiten zur Erneuerung des mythischen Gründungspaktes Kapital zu schlagen. In der Auseinandersetzung um die enge Verflechtung von Religion und Stadtkönigtum, die für die Kultur der Yoruba charakteristisch ist, musste sich Susanne Wenger letztlich geschlagen geben. Da sie als Kontrollinstanz bestätigt wurde, öffnete sie die Haine trotz ihrer Bedenken doch für Touristen – im Vertrauen, dass „jeder […] von selbst zum Pilger wird“ und „spürt, daß dies hier keine gewöhnliche ‚attraction‘ ist, sondern ein Raum der Andacht vor dem Leben, an dessen Atmosphäre er Anteil nimmt.“ (Brockmann/Hötter, S. 155)
In den 1990er-Jahren zeichnete sich mit der Gründung der Osun Grove Support Group und des Adunni Olorisha Trust eine Trendwende zugunsten der Künstlerin ab: Sie wurde als Pionierin einer „grünen“ Ästhetik gefeiert und ihr in Oshogbo geschaffenes Gesamtkunstwerk als postkoloniales Vorzeigeprojekt avant la lettre (Probst, S. 71). Die größte Anerkennung wurde Wenger im Jahr 2005 zuteil, als sie ihren 90. Geburtstag beging und der Heilige Hain von Oshogbo von der UNESCO in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen wurde. In der Begründung hieß es, Wengers New Sacred Art habe durch die Absorption der wesentlichen Prinzipien der Yoruba-Kosmologie eine Wiederbelebung des Hains im Sinne seiner ursprünglichen Bestimmung herbeigeführt. Die Kehrseite der Medaille freilich ist, dass mit dem Label „Weltkulturerbe“ erst recht der Kommerzialisierung Tür und Tor geöffnet wurde, was Susanne Wenger zum Teil auch noch erlebt hat. Sie verstarb am 12. Jänner 2009 und wurde im Sinne einer besonderen Ehrerbietung nach traditionellem Orisha-Ritus im Heiligen Hain von Oshun, ihrer selbst gewählten Heimat, bestattet.
Eine längere Fassung dieses Textes zu Susanne Wengers Kunstbegriff, mit zahlreichen philosophischen, historischen und kunstgeschichtlichen Verweisen und Bezügen zu künstlerischen Weggefährt*innen ist auf der website der Susanne Wenger Foundation zu lesen. Dort findet sich auch eine ausführliche Literaturliste zum Text.
susannewengerfoundation.at/de/ausnahmefrauen-christa-hauer-hildegard-joos-susanne-wenger-1
Alexandra Schantl, Ausnahmefrauen – Christa Hauer, Hildegard Joos, Susanne Wenger | Frauenleben in Niederösterreich, Verlag Bibliothek der Provinz
Pierre Guicheney, La dame d’Osogbo (Lady from Osogbo), 2007
Pierre Guicheney, Osun Osogbo, la forêt et l’art sacrés des Yoruba, 2009
Trailer zu beiden Filmen: http://pierre-guicheney.eklablog.com/
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