22. September 2020, Dorothea Kurteu
In einer Nacht im August hat eine Alte des Meeres den Menschen am Terreíro einen Rat gegeben. Nachdem sie eine Weile ihrem Tanz gefolgt war, meinte sie, dass das ein Tanz einzelner Inseln gewesen war. Schön anzusehen. Doch sei es auch wichtig, zu wissen, dass es zwischen Inseln immer Räume der Beziehung und Begegnung gäbe.
Als ich diese Geschichte gehört habe, sind mir die Begriffe des Archipelischen Denkens und der Poetik der Beziehung des Kulturphilosophen und Schriftstellers Édouard Glissant in den Sinn gekommen.
Wochen später bin ich bei einem Austauschtreffen mit Kolleg*innen, die wie ich im Feld gesellschaftspolitischer Biografiearbeit tätig sind. Unerwartet ist auch Sabine da, die Frau, die mir vor einigen Jahren ein Buch empfohlen hatte - Edouard Glissants “Kultur und Identität. Ansätze zu einer Poetik der Vielheit”. Ich freue mich über den Hinweis dieser Begegnung, hatte ich doch gerade wieder begonnen, mich in Glissant einzulesen, mit dem Vorhaben, diesen Text hier zu schreiben.
“Frauenleben: hier und dort, gestern und heute” - Sabine stellt uns bei dem Treffen einen Erzählworkshop zur interkulturellen Begegnung vor und spricht von ihren Erfahrungen. Besonders bemerkenswert fand sie, dass durch die Enthierarchisierung, durch die Gleichwertigkeit der Sprachen, in denen die Frauen sich in diesem Workshop mitteilen konnten, Erzählungen in einer Tiefe möglich wurden, die alle in der Runde sehr berührt und bereichert hat. Über das sprachliche Verstehen hinaus konnten neue Räume von Verstehen aufgehen, Verbindungen sich ergeben, tatsächlich Neues gehört werden.
Und wieder kann man hier an Édouard Glissant denken, an einen Sucher nach bisher Unbekanntem.
Zu vielen aktuellen gesellschaftlichen Diskursen kann man bei Glissant nachlesen, auch wenn seine Texte vor Jahrzehnten entstanden sind. Was Glissant mit anderen klugen Leuten verbindet, ist ein Denken über ihre Zeit und ihren Raum hinaus. Wir nennen das in unserer Kultur dann meist Vorausdenken, doch ist es ebenso ein Zurückdenken, oder - wie im Fall Glissants - ein Zirkuläres Denken. Die Karibischen Antillen bilden mit ihrer Historie und Landschaft den Boden dessen, wie er sich als Mensch auf Welt bezieht und Welt bildet. Er denkt auch als Körper, er denkt auch in Bergen, Inseln, in Winden und Meeren.
In seinem letzten, 2009 erschienenen, Essay “Philosophie de la Relation” erzählt Édouard Glissant die Geschichte seiner Geburt auf der Karibik Insel Martinique im Jahr 1928 -
„Gegen Ende der zwanziger Jahre hat der Vulkan Pelée so sehr vor Wut gegrollt, dass eine kleine Legende daraus hervorgegangen ist, der zufolge ich in einem seiner Ausflüsse geboren worden wäre [...] Für ein Kind, das Dichter sein wird, ist es ein eitler Gedanke, im Getöse eines vulkanischen Durcheinanders auf die Welt gekommen zu sein, vielleicht sogar einer verfluchten, wenngleich flüchtigen Eruption, und dadurch enge Verbindungen zu den Kräften geerbt zu haben, die es sich nicht vorstellen kann.“
Emanuelle Collas, die gemeinsam mit Glissant die Textsammlung “La terre, le feu, l'eau et les vents” (Die Erde, das Feuer, das Wasser und die Winde) herausgegeben hat, beschreibt sein Denken und Weltverhältnis so -
Er hatte einen Bezug zur Welt, der auf uraltes Wissen zurückgeht, dazu das Denken der Erschütterung, das direkt von der Erde ausgeht, vom Erdbeben. All dies setzt ein anderes Denken frei, heißt auch zu akzeptieren, dass man nichts versteht. Er liefert uns die Schlüssel für die Beziehung zu uns selbst, zum anderen, zur Welt, zum aktuellen Geschehen.“
Die Zucker-Plantage im Norden Martiniques, auf der Glissant aufwuchs, war für ihn ein “prägendes Universum” - gleichermaßen ein Ort der Ausbeutung und Ungleichheit unter den Menschen, wie auch ein Ort des Imaginären und der Geschichten.
“Nach Einbruch der Dunkelheit gab es immer einen Landarbeiter, der bei Kerzenlicht kreolische Erzählungen vortrug. Wer je auf einer Plantage lebte, hat ihnen zugehört. So hat Faulkner oft den schwarzen Erzählern des Mississippi gelauscht, oder den indianischen. Anders ausgedrückt, wir wurden geprägt von einer Praxis der Oralität, die unmittelbar, ja geradezu instinktiv war. Die Oralität hat ihre eigenen Strukturen: Der kreolische Erzähler wiederholt, und ich sage provokativ, dass die Wiederholung eine moderne Form der Erkenntnis ist. Der kreolische Erzähler wiederholt, er zerstört die Geschichte, die er erzählt. Wenn er eine Geschichte erzählt, verschachtelt er sie in einer anderen, fängt noch eine Dritte an, kommt wieder auf die erste zurück, das heißt, er hält sich nicht im Geringsten an die Erzählstruktur des Westens. Will man die Wahrheit einer Person, eines Landes, einer Sache ausdrücken, sucht man nicht nach der Formel, die alles auf einmal auf den Punkt zu bringen versucht.”
Éduard Glissant konnte mit einem Stipendium ab 1946 an der Sorbonne in Paris Philosophie, Ethnologie und Literatur studieren und wurde schließlich ein Weltbürger, ein visionärer Nomade. Er hat sich für die Aufarbeitung des Sklavenhandels und des Kolonialismus und für den Kampf gegen den Neokolonialismus eingesetzt, hat in der Karibik, in Afrika, Europa und den USA mit seinen Forschungen und Ideen zu postkolonialen Identitäten und kulturellen Entwicklungen für ein offenes Miteinander der Kulturen gewirkt. Bereits in den frühen 1970er Jahren hat Glissant das beschrieben, was wir heute Globalisierung nennen. Er bewertete dieses Zusammenwachsen der Welt zunächst sehr positiv, sah es als Chance, auch für bisher Benachteiligte. Doch er musste erkennen, dass die alten Machtverhältnisse aufrecht blieben, die Dominanz des einen Denkens, das sich selbst so absolut setzt.
“Die Homogenisierung der kulturellen Unterschiede ist eine ernsthafte Gefahr. In den möglichen Wegen aus dieser Bedrohung liegt die Relevanz von Glissants Schriften.” - schreibt Hans Ulrich Obrist, Kurator für zeitgenössische Kunst, der über Jahrzehnte Gespräche mit Glissant geführt hat - “Glissant hat uns Möglichkeiten eines globalen Austauschs aufgezeigt, die die Kultur nicht homogenisieren, sondern eine Differenz produzieren, aus der Neues entstehen kann.”
In “Kultur und Identität” vergleicht Glissant das Mittelmeer mit den Archipelen der Karibischen See. Das eine ein Meer der Sammlung und Konzentration, das andere eines der Streuung, der Offenheit. Seiner Ansicht nach sind die großen monotheistischen Religionen nicht zufällig rund um das Mittelmeer herum entstanden, immer habe man sich hier auf Kräfte des Einen und der Einheit bezogen. Die Karibische See und ihre Archipele seien hingegen sowohl ein Ort des Durchgangs und der Passagen, wie auch ein Ort der Begegnung, der Einbeziehungen, der Umwandlung. Hier sind auch die Kreolsprachen entstanden, eine Kombination aus der Sprache der französischen Kolonialherren und den afrikanischen Sprachen der versklavten Migrant*innen1. Die Kreolsprachen tragen diese Sprach-Elemente in sich, sind jedoch auch etwas Eigenständiges, unerwartet Neues.
“Die Identität des Einzelnen sowie die kollektive Identität sind nicht unveränderlich und ein für alle mal festgelegt. Durch einen Austausch kann ich einen Wandel vollziehen, ohne mich selbst zu verlieren oder meine Natur zu verleugnen. Das lehrt uns das Archipelische Denken.”
Das Archipel hat kein Zentrum, es bildet keine vereinheitlichende Synthese, sondern ein Beziehungsnetz, ein Rhizom. Archipelisch zu denken bedeutet für Glissant auch ein Denken in Spuren, ein suchendes Denken, das nicht beherrschend, bezwingend, nicht systematisch ist, sondern intuitiv, poetisch, brüchig, ambivalent. Nur so ein Denken könne die Komplexität unserer Welt und seine Unvorhersehbarkeit erfassen, beforschen und mitgestalten.
1999 ist Glissants Utopischer Roman Sartorius erschienen. Er beschreibt darin das Volk der Batoutos, das seine Identität nicht aus der eigenen Genealogie schöpft, sondern allein daraus, dass es sich im ständigen Dialog mit anderen befindet. Entgegen den meisten utopischen Werken, die zwar neue, aber wiederum statische Systeme entworfen haben, bezeichnet Glissant seine Utopie als ein “Zittern” oder “Beben”, weil es über feste Denksysteme hinausgeht und sich dem Ungewissen aussetzt.
“Dies ist der einzige Weg, die Globalisierung zu bekämpfen. Es geht nicht darum, sich in sich selbst zurückzuziehen und sich abzuschotten. Man muss Verbindungen zum anderen aufbauen.”
„Wenn wir die Weltbeziehung denken, in ihr leben und handeln, setzen wir Glanzpunkte des Imaginären, Blitzlichter der Poetik, Visionen des Politischen, und verpflichten sie der Schönheit. Ausbeutung, Verbrechen, Herrschaft vermitteln nie den Eindruck des Schönen.“
- das schreibt Glissant in einem Brief an Barack Obama aus Anlass von dessen Wahl als erstem Schwarzen (Kreolischen) Präsidenten der USA 2009. Glissant war ein Theoretiker und zugleich ein Praktiker, ein Künstler, ein politischer Spieler mit Realitäten. Immer wieder hat er mit öffentlichen Briefen und Manifesten Aufsehen erregt, meist gemeinsam mit seinem Schriftstellerkollegen Patrick Chamoiseau verfasst. So das “Manifest für die Produkte, die dringend benötigt werden.“ (2009) -
„Wir gehen davon aus, dass man nicht leben kann, wenn man nur ökonomisch denkt und handelt. Man muss versuchen, an das zu denken, was nach dem Kapitalismus kommt. Die beste Art den Kapitalismus zu bekämpfen, besteht darin, sich schon jetzt einen „Après-Kapitalismus“ vorzustellen, das heißt eine Welt, in der die Zwänge des Kapitalismus keine Zwänge mehr sind. Eine Welt, in der es möglich ist, über die Unentgeltlichkeit der Existenz nachzudenken, zeitweilig und ortsgebunden. Eine Welt, in der das Konzept individueller Verantwortung weiter gefasst werden kann und über die wirtschaftlichen, verkaufs – und werbetechnischen Bestimmungen und Ähnliches hinausreicht, die man Völkern und Menschen aufzwingt. Diese Dimensionen sind die Produkte, die wir dringend benötigen. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass sie mit den Produkten zusammenkommen, mit denen wir die Grundbedürfnisse der Menschen abdecken. In dem Moment, in dem wir diese Art von Verbindung herstellen, werden die Menschen anfangen, tatsächlich zu leben, statt in ein Räderwerk eingezwängt zu sein, das der kapitalistische Liberalismus antreibt.”
In der bereits erwähnten Textsammlung “La terre, le feu, l'eau et les vents” schafft Glissant einen Raum, in dem sich, scheinbar nach dem Zufallsprinzip, Schöpfungsmythen aller Kontinente und Epochen, grundlegende Reden schwarzer Freiheitskämpfer und Gedichte der Weltliteratur, begegnen.
In der Einleitung schreibt er: „Wir können heute die heiligen Beschwörungen von den Uranfängen der Menschheit im gleichen Zug und zur gleichen Zeit lesen und aussprechen wie die Gedichte, die die modernen Sümpfe und die Räderwerke der Städte und die verschandelten Landschaften geprägt haben und zwar am Rand des Strebens nach einer universellen Geschichte, den aufeinander folgenden Sprüngen in den Geschichten der Völker und dem Zurückweichen der Elemente des Ganzen, der Lawine und dem Brand, der Überschwemmung und dem Wirbelsturm, der Erde und dem Feuer, dem Wasser und der Luft.“
Glissant war tief beeindruckt von den alten indigenen Mythen, sie waren ihm Inspiration, Erkenntnis und Gefährt*innen, nicht zuletzt im Erzählen gegen die Transzendenz und den Absolutheitsanspruch der monotheistischen Weltreligionen.
„Interessant an diesen Mythen der amerikanischen Indianer ist erstens, dass sich die Götter viermal anschicken, die Welt zu erschaffen – die ersten drei Male täuschen sie sich, es klappt nicht – und zweitens, dass es „ein Loch“ zwischen der Erschaffung der Welt und dem Anfang der Geschichte gibt, das heißt dem ersten Menschen. Das Denken über den Gründungsmythos des Westens könnte dieses „Loch“ nicht zulassen. Aus diesem Grund hält sich der Mensch in den Mythen der amerikanischen Indianer nicht für den Besitzer, sondern für den Bewahrer der Erde. Wie der, der da ist, um sie zu ehren, zu unterhalten, nicht um sie zu vergewaltigen oder zu beschmutzen. Warum? Weil dieses Loch, diese Abwesenheit, das sich zwischen die Erschaffung der Welt und den Anfang der mythischen Geschichte und dem Erscheinen des ersten Menschen gräbt, das weithin sichtbare Zeichen ist, dass es die Legitimation des Besitzes und die Aneignung der Erde nicht gibt.“
Zurück zum Meer. Zurück zu den Inseln.
Gegen Ende seines Lebens hat Édouard Glissant die Buchreihe “Peuples de l’eau” (Völker des Wassers) herausgegeben. Auf Initiative der UNESCO war im Juli 2004 ein Dreimast-Segelschiff von Korsika zu einer drei Jahre dauernden wissenschaftlichen Expedition aufgebrochen - zu acht Völkern, die nur vom Wasser aus zu erreichen sind, da sie auf abgeschiedenen Inseln, an Flussufern oder an Küsten leben. Zwölf Schriftsteller*innen und Journalist*innen, ausgewählt von Édouard Glissant, nahmen jeweils an einer der Expeditionen teil. Glissant selbst konnte aus Altersgründen nicht mehr reisen, seine Ehefrau, die Künstlerin Sylvie Séma, war auf Rapa Nui und im fernen Zusammenspiel erkundeten sie diese magische Insel mit ihren geheimnisvollen Geschichten. In “Das magnetische Land. Die Irrfahrt der Osterinsel Rapa Nui” gestaltet Glissant die alte Insel aus dem Geist des Mythos neu. Er versucht, das Seinsgefühl der Bewohner*innen zu erfassen - “es speist sich aus einem außerordentlichen Gespür für Magnetismus, für die Bewegungen aus der Tiefe der See wie des Himmels.”
Und ich stelle mir jetzt vor, wie sie sich begegnen, die Alte des Meeres und der Dichter und Denker. Wie sie Erinnerungen tanzen und unerwartbar Neues sich aus der Bewegung gebiert.
1 die Indigenen Sprachen spielen bei der Bildung der Kreolsprachen auf den Antillen eine geringe Rolle, da die einheimische Bevölkerung zB auf Martinique bereits Mitte des 17. Jh beinahe vollständig getötet worden war.
Kultur und Identität. Ansätze zu einer Poetik der Vielheit. Wunderhorn, Heidelberg 2005
Zersplitterte Welten. Der Diskurs der Antillen. Wunderhorn, Heidelberg 1986
Poetics of Relation. Michigan University 1997
Brief an Barack Obama. Die Unbezähmbare Schönheit der Welt. Wunderhorn, Heidelberg 2011
Édouard Glissant und Hans Ulrich Obrist. 100 Notizen, 100 Gedanken Nr38, Publikation der documenta Kassel 2012
Weitere Bücher in deutscher Übersetzung: wunderhorn.de/autoren/edouard-glissant/
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