2. Juli 2020, Dorothea Kurteu
A nossa mãe, a Terra, nos dá de graça o oxigênio, nos põe para dormir, nos desperta de manhã com o sol, deixa os pássaros cantar, as correntezas e as brisas se moverem, cria esse mundo maravilhoso para compartilhar, e o que a gente faz com ele? O que estamos vivendo pode ser a obra de uma mãe amorosa que decidiu fazer o filho calar a boca pelo menos por um instante. Não porque não goste dele, mas por querer lhe ensinar alguma coisa. "Filho, silêncio.” A Terra está falando isso para a humanidade. E ela é tão maravilhosa que não dá uma ordem. Ela simplesmente está pedindo: “Silêncio”
Unsere Mutter, die Erde, schenkt uns Sauerstoff, bettet uns zum Schlaf, weckt uns morgens mit der Sonne, lässt die Vögel singen, die Strömungen und Brisen sich bewegen, sie schafft diese wunderbare Welt, um sie zu teilen, und was machen wir mit ihr? Was wir zur Zeit erleben, ist vielleicht das Werk einer liebenden Mutter, die beschlossen hat, ihr Kind zumindest für einen Augenblick zum Schweigen zu bringen. Nicht, weil sie es nicht mag, sondern weil sie ihm etwas beibringen will: "Tochter, Sohn, sei still". Die Erde spricht so mit den Menschen. Und sie ist so wunderbar, dass sie nicht befiehlt. Sie bittet einfach: "Schweigen"
“O Amanhã Não está à Venda” - Das Morgen ist nicht zu verkaufen - ist der Titel des Buches, aus dem dieses Zitat stammt. Der Autor, Ailton Krenak, hat es in den vergangenen Monaten am Rio Doce im Südosten Brasiliens geschrieben. Auch er hat Termine abgesagt und sich mit seiner Gemeinschaft zurückgezogen. - “Unser Reservat [ist] isoliert worden. Diejenigen, die abwesend waren, sind zurückgekehrt. Wir kennen das Risiko und die Gefahr, Menschen von ausserhalb zu empfangen, sehr gut. [...] Wir sind alle hier, und bisher hat es keine Vorkommnisse gegeben.”
Ailton Krenak ist seit den 1970er Jahren Aktivist der Sozial- und Umweltbewegung und eine der wichtigen Indigenen Intellektuellen Stimmen des gegenwärtigen Brasilien. Im Vorjahr ist “Ideias para adiar o fim do mundo” - Ideen, das Ende der Welt aufzuschieben - erschienen. Ein Buch aus Vorträgen und Gesprächen, gehalten und geführt in Lissabon. 2017 war Ailton Krenak erstmals nach Portugal gereist, zu einer Tagung seines Freundes, des Anthropologen Eduardo Viveiros de Castro, mit dem Titel “Os involuntários da pátria” - Die Unfreiwilligen des Heimatlandes. Bis zu diesem Zeitpunkt hätte er mit den Portugiesen und Europäern nicht viel zu besprechen gehabt, sagt Ailton Krenak, doch zu Beginn des 21. Jahrhunderts ermögliche eine Kooperation von Denker*innen aus unterschiedlichen Kulturen andere Visionen einer Ordnung der Welt.
“Wir alle müssen aufwachen. Eine Zeit lang waren es wir, die indigenen Völker, die bedroht waren von der Auslöschung unserer Lebensgrundlagen. Heute steht uns allen bevor, dass die Erde unser Verlangen nicht weiter erträgt.”
“Wer seid ihr, die ihr mich lest?” - fragt Eduardo Viveiros de Castro im Namen Ailton Krenaks in seinem Nachwort zu “Ideias para adiar o fim do mundo” und möchte damit verunmöglichen von einem trivialen Wir zu sprechen. Die Frage zur Menschheit, die wir zu sein meinen - und auch die Frage nach den mehr als menschlichen Welten - sei immer auch eine Frage nach Beziehungen.
Vor wenigen Tagen habe ich erstmals seit Monaten wieder eine Staatsgrenze in Europa überschritten, auf einer Reise an unseren Terreiro. Im Gepäck, zwischen rituellen Kleidern und Gegenständen, wie dem Diadema meines Pai Caboclo, auch diese - äusserlich schmalen - Bücher und weitere Artikel, Notizen, Gespräche, Filme von und mit Ailton Krenak. Ich hatte den Job übernommen, diesen Blog-Text zu schreiben. - “Wer bist du, die diese Geschichte weitererzählt?”
Camarinha, rituelle Tage am Terreiro. Die Kräfte der Elegbaras machen uns darauf aufmerksam, in welch sicherem und reichen Raum sie und wir uns hier bewegen können. Wie viele andere Orte es gäbe, an denen Freund*innen wie sie nicht erwünscht und in Gefahr seien. Wir bereiten rituelle Nahrung. Eine Gabe des Dankes an die Gefährt*innen, vor allem aus Brasilien, die Mut und Vertrauen und Wissen in diesen Terreiro haben fliessen lassen. Eine Geste der Beziehung.
Am Tag nach der Camarinha zeigt Iya Habiba ein kleines, stilles Video. Denise, eine Freundin aus Cumuruxatiba/Bahia, hat gefilmt, wie sie unseren brasilianischen Trommeln, die sie vor Ort hütet, Nahrung gibt. Wieder - eine Geste der Beziehung.
“Im Wald kann man nicht shoppen”- sagt Ailton Krenak einmal in einem Gespräch, und meint damit auch, dass man Geschichten, Ideen und Haltungen nicht einfach kaufen und schnell konsumieren kann. Keine nicht-triviale Verbundenheit, keine Solidarität und schon gar kein Begreifen indigener Welten. - “Man kann nicht im Wald leben, man kann nur den Wald leben”.
Dieser Text hätte auch anders beginnen können. Nicht mit der grosszügigen, teilenden Stimme der Mutter Erde, sondern mit der ausschliessenden, zerstörerischen Sprache der einen Idee, der einen Wahrheit, der einen Menschheit, die sich ihrer so sicher schien, dass sie alle anderen - Menschen und Natur - unter diese monokulturelle Erzählung vergewaltigt hat.
Für die ursprünglichen Völker auf dem amerikanischen Kontinent - und an anderen Orten der Erde- die sich der Gewalt der aufklärerisch durch die Welt ziehenden Europäer und den Krankheiten, die sie mit sich brachten, ausgesetzt sahen, kam das Ende der Welt schon im 16. Jahrhundert. - “Wir Indigenen leisten weiter Widerstand, aber ich sehe in der Regierung Bolsonaro nur ein weiteres Kapitel in unserem kolonialen Kampf, der 1500 begonnen hat, als die Portugiesen unser Territorium überfallen haben, und der bis heute andauert. Das Modell der Besetzung Amerikas durch die Europäer zielte auf die Ausrottung der ursprünglichen Völker, seitdem hatten wir nie Frieden. Wir sind schon immer im Krieg.” - sagt Ailton Krenak.
Die “Fast-Menschlichen” oder die “Unter-Menschlichkeit” sind laut Krenak jene, die “darauf bestehen,sich aus diesem zivilisierten Tanz der Technik, der Kontrolle des Planeten herauszuhalten. Um eine skurrile, bizarre Choreografie zu tanzen werden sie aus der Szene genommen, von Epidemien, Armut, Hunger, gerichteter Gewalt.”
Die mythologischen Geschichten der Tikuna, der Guaraní und der Krenak erzählen freilich auch etwas anderes: sie sehen die Ankunft der Weissen vor 500 Jahren als Rückkehr eines Bruders, der vor langer Zeit weggegangen war und sich vom indigenen Mensch-Sein entfernt hatte. Dieser weisse Bruder sei ein Subjekt, das fern von zuhause viel gelernt habe, das häufig vergessen habe, woher es kommt und jetzt kaum weiß, wohin es geht.
2018, kurz vor der Wahl von Präsident Jair Bolsonaro, wurde Ailton Krenak von einer portugiesischen Zeitung gefragt - „Was werdet ihr Indigenen angesichts dessen tun?“, und er antwortete: „Mehr Sorgen mache ich mir um die Weissen, darüber, was sie jetzt tun können, um das zu überstehen. Ich habe bis jetzt keine sehr konsistente Haltung der Weissen gegenüber den Angriffen der Regierung auf Umwelt-, Bildungs-, Kultur- und Sozialpolitik gesehen. Ich dachte, die politischen Parteien würden sich zu einer riesigen Koalition gegen dieses neoliberale Projekt zusammenschließen, aber nichts ist geschehen. Die Leute scheinen wie betäubt.”
Wenn es Gerechtigkeit gäbe würde das Volk der Krenak heute nicht in einem Reservat auf 4000 Hektar, sondern in und mit seinem ursprünglichen Raum leben. In der Zeit der Brasilianischen Diktatur (1964 bis 1985) wurde das Gebiet der Krenak ausgewählt, um dort eine “Besserungsanstalt für rebellische Indigene” aus dem ganzen Land zu errichten - “O reformatorio indigena krenake”. Ailton Krenak war 17 Jahre alt als sein Volk gewaltsam in ein Exil umgesiedelt wurde.
“Trotz dieser Gewalt haben wir nie vergessen wer wir sind” - sagt er. Die Kraft der Erinnerung, die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, zu tanzen, zu singen, zu träumen, lässt die Krenak auch andere Orte bewohnen. “Wir haben auch die Flüsse, die Berge die Lebewesen des Waldes, unsere Verbündeten, nie vergessen und die Landschaft, die uns willkommen geheissen hat.”
Erinnerung ermögliche, Geschichten über die Welt, in der man lebt, zu erzählen, Erinnerung sei kritisches Bewusstsein, eine aktive politische Handlung einer sozialen Gruppe. Und Erinnerung schaffe Kultur, in jedem Moment neu.
“Eine Gemeinschaft, die weitere Welten kreieren kann, hat Möglichkeiten das Desaster viel besser zu überleben, als die, die diese Fähigkeit verloren haben und meinen die einzige Wirklichkeit, die existiert, ist diese hier, diese tägliche Realität. Wir haben die Fähigkeit, unsere Erinnerung wachzurufen, immer zu wissen, wer wir sind und aus dieser Erinnerung wichtige Impulse für die Verwirklichung gemeinschaftlicher Projekte zu gewinnen.”
Für Ailton Krenak ist es eine Tragödie, dass die Mehrheit der Menschen eine egoistische, individuelle Idee kultiviert hat und dass die Kraft der Gemeinschaft klein gemacht wurde zugunsten von Ideen von Heroen und Gewinnern. - “Eine Gemeinschaft, die auf Gewinnern basiert, produziert eine große Zahl von Verlierern.”
Nach 20 Jahren Militärdiktatur erhielt Brasilien 1988 seine noch heute gültige Verfassung. Darin wurden die rund 300 indigenen Völker erstmals als ursprüngliche Bewohner*innen des Landes anerkannt. Die sogenannte Demarkation der indigenen Gebiete sollte Schutz vor unerlaubtem Zutritt sichern und Rohstoffabbau verbieten.
Als Vertreter der Indigenen Bewegung Aliança dos Povos da Floresta hat Ailton Krenak mit einer historischen Rede in der Verfassunggebenden Versammlung 1987 seinen Beitrag geleistet.
Eduardo Viveiros de Castro weist darauf hin, dass die Generation Ailton Krenaks die erste war, die für die Indigene Bevölkerung das Recht auf einen gleich-beteiligten Platz in der pluralen brasilianischen Gesellschaft erkannt und gefordert hat.
Doch seit Jänner 2019 ist Jair Bolsonaro Präsident und die Gewalt gegen die “Unter-Menschlichkeit” (Ailton Krenak) ist zurück. Seit Beginn seiner Amtszeit werden demarkierte Gebiete angegriffen, große Waldgebiete zerstört, die zuständige Indigenen-Behörde FUNAI regierungskonform umgebaut und veranlasst, die ausgewiesenen Schutzgebiete einer Revision zu unterziehen.
Die verbliebenen Communities kämpfen um die letzten Lebensräume, die ihnen ausreichend Nahrung bieten würden, um in ihren Organisationsformen zu überleben. Die Regierung zwingt sie, sich in Abhängigkeit und bis zur Auslöschung in die Dominanzkultur zu integrieren.
“Wir Brasileiros sind eine komplexe Formation von Indios, Schwarzen und Weissen, Menschen aus der ganzen Welt. Zwei Gruppen sind sozial unsichtbar und werden von einer regiert.” sagt Ailton Krenak.
Das Dorf der Krenak liegt am Ufer des Rio Doce im Bundesstaat Minas Gerais. Jeden morgen schauen die Menschen zum nahen Berg Takukrak, um zu sehen wie der Tag wird, “Erwacht er mit ganz hellen Wolken um seinen Kopf, ganz geschmückt, ist das für uns ein Zeichen, dass wir tanzen, fischen, feiern, hinausgehen können. Schaut er grimmig, sind wir zurückhaltender.”
“Es gibt viele Leute, die mit Bergen sprechen” - erzählt Ailton Krenak - “In den Anden findet man Orte, an denen die Berge Paare bilden. Eine Familie von Bergen, die sich austauschen und Zuneigung zeigen. Und die Menschen, die in diesen Tälern leben, feiern für diese Berge Feste, geben Essen, machen Geschenke, bekommen Geschenke von den Bergen. Warum begeistern uns diese Geschichten nicht? Warum werden sie vergessen und ausgelöscht zugunsten einer globalisierenden, oberflächlichen Erzählung, die uns die eine gleiche Geschichte erzählen will?”
“Der Rio Doce, den wir, die Krenak, Watu, unseren Großvater nennen, ist eine Person, keine Ressource, wie die Ökonomen sagen. Er ist nicht etwas, das sich jemand aneignen und besitzen kann. Er ist Teil unseres Zusammenspiels als Kollektiv, das einen bestimmten Ort bewohnt, an dem wir allmählich von der Regierung eingesperrt wurden, damit wir leben und unsere Organisationsformen weiterführen können - mit all diesem Druck von aussen.”
Am 5. November 2015 wurde der Rio Doce auf einer Länge von 600 Kilometern verseucht. Die Dämme von zwei Rückhaltebecken einer Eisenerz-Mine waren gebrochen und 32 Millionen Kubikmeter roter Giftschlamm strömten ins Tal und in den Fluss. “Großvater Watu liegt seither im Koma” - sagt Ailton Krenak - “Das Ereignis traf unser Leben schwer: Wir hatten kein Wasser mehr, keinen Fisch, keinen Ort mehr für Rituale und Feste. Die Kinder konnten am Fluss nicht mehr spielen.” Die Krenak wurden gedrängt, den Ort zu verlassen. Das haben sie abgelehnt - “Der Fluss ist Teil unserer Familie, wir wollen hierbleiben, um ihn zu beweinen und zu trauern. Köpfen, denen die Idee der Zugehörigkeit zu einem Ort fremd ist, mag dies unbegreiflich sein.”
“Auf eine bestimmte Weise wurden wir dazu domestiziert, nur an eine Welt zu glauben.” - sagt Ailton Krenak - “Das produktive Subjekt wurde getrennt von denen, die nicht dieselbe Struktur haben, um eine monochromatische Welt zu bewohnen in der monochromatische Ideen produziert werden. Mit Intoleranz gegen Unterschiede, gegen Diversität und die Möglichkeiten der Überraschung - das sind die Ideen, die in diesem kleinen Buch stehen.”
“Auch nicht indigene können lernen zu träumen, nicht nur von einem neuen Auto, auch von neuen Welten. Das ist ein Training, eine Disziplin. Die Mehrheit der Kulturen, die sich noch zu erinnern wissen, erzählen Geschichten über mehrere Welten.”
“Ideias para adiar o fim do mundo” - Ideen, das Ende der Welt aufzuschieben, ist kein Manual des Überlebens, es ist eine Provokation über unsere Möglichkeiten, die Welt auszuweiten in einer poetischeren Bedeutung unserer Existenz. - “Meine Provokation, das Ende der Welt zu aufzuschieben, besteht darin, dass ich immer eine neue Geschichte erzählen kann.”
Ailton Krenak, Ideias para adiar o fim do mundo. Companhia das Letras, 2019
Ailton Krenak, O Amanhã não está à venda. Companhia das Letras, 2020
Vozes da Floresta - A aliança dos Povos da Floresta de Chico Mendes a nossos dias, Le Monde Diplomatique Brasil, 2020 https://www.youtube.com/channel/UCO0Wd2SV2Wp_661FEFkN08A
Espiral dos Afetos - Ideias para adiar o fim do mundo. Centro de Artes UFF 2020 https://www.youtube.com/watch?v=NUhCKS_UezM
Wir sind schon immer im Krieg. Ana Paula Orlandi im Gespräch mit Ailton Krenak, Goethe Institut Brasilien 2020 https://www.goethe.de/ins/cl/de/kul/fok/zgh/21806968.html
Índio cidadão? Rodriguarani Kaiowá e Equipe, 2014, 52 min https://www.youtube.com/watch?v=Ti1q9-eWtc8
Caminhos contra o retrocesso, Márcio Santilli, 2018 https://medium.com/hist%C3%B3rias-socioambientais/caminhos-contra-o-retrocesso-6944ef105288
O Reformatório Krenak e Estado brasileiro promotor de violência contra as mulheres indígenas, Rodrigo de Medeiros Silva, 2017
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