Mit dem Mond gehen

21. Juni 2017, Konstanze Thomas
 

Eine gedankliche Verbindung persönlicher Erfahrung mit Zitaten von Erich Neumann 
"Über den Mond und das matriarchale Bewusstsein." *


"Ich bin heute nach dem Aufstehen schon in unseren Brunnen gesprungen, dass ich ein bisschen "tagiger" werde, aber es hat nicht genützt.", sagte letztens eine Freundin zu mir, als ich sie am Morgen abholte.
"Tagig" – das Wort gefiel mit sofort und "nachtig", dass mir bald in den Sinn kam, nachdem ich das andere mehrmals stumm vor mich hingedacht hatte, klang in einer ähnlichen Mischung aus Mystischem und ganz Selbstverständlichem in meinem Ohren. Etwas in mir, irgendwo in meinem Rumpf, wusste ganz genau was gemeint war, wie sich "nachtig-Sein" anfühlte, wozu meine Freundin in dem Zustand fähig war und wozu nicht. In meinem Kopf war weniger Klarheit und Resonanz, hier stellte sich derweil die Einsicht ein, dass nicht viel Erklärliches zu finden war zu den Worten und auch nicht zur Gefühlserfahrungsbeschreibung. So setzte sich schnell die gewohnte Einschätzung durch, dass hier derart Mystisches beschrieben wurde und dies nicht so meine Sache ist bzw. mir hier der Zugang fehlt. Wir fuhren los zu unserem Tagesziel und tauchten ein in Alltagsgespräche. Irgendwo in mir blieb aber der Klang "nachtig" und eine kleine Sehnsucht danach hängen.

"Nicht unter den brennenden Strahlen der Sonne, sondern im reflektierten kühlen Licht des Mondes, wenn das Dunkel des Unbewussten gross ist, geht der schöpferische Prozess vor sich: die Nacht, nicht der Tag, ist die Zeit der Zeugung. Zu ihr gehören Dunkelheit und Stille, Geheimnis, Schweigen und Verhülltheit." (S. 78)

In seinem Vortrag liefert Erich Neumann einige Vorschläge für meine innere Resonanz mit dem Wort "nachtig". Er erläutert sehr ausführlich, dass das von ihm beschriebene "matriarchale Bewusstsein" nicht bzw. noch nicht vom Unbewussten gelöst ist, sondern eng mit ihm verbunden, ja abhängig davon ist. Wenn ich seine Worte richtig interpretiere, meint er mit Bewusstsein ein weites Wort, was teils sehr nahe an "Wahrnehmung" ist und deutlich über das enge, "reine" Denken hinausweist. Ebenfalls macht er deutlich, dass "matriarchal" hier nicht als Begriff zu verstehen ist, der "nur" Frauen betrifft, sondern der weiter reicht; einerseits zurück in die menschliche Frühzeit und andererseits auch in die männliche Psyche und jene von Kindern.

In seinem Artikel stellt er zunächst Urmysterien des Mondes vor, erörtert dann in einem Teil jene Aspekte matriarchalen Bewusstseins, die mit dem Mond und dem Unbewussten verbunden sind, und nimmt im dritten Teil Bezug auf konkretes, weibliches Erleben und Verhalten. (Dass ein Mann einen solch "weiblichen" Vortrag hält, liegt wohl in der Natur unserer Kultur. Ich habe mich entschlossen, nicht widerständig zu sein – schliesslich möchte ich wissen, was er schreibt.) Schon lange nämlich suche ich nach versprachlichter Erfahrung zu einem anderen Begriff, dem der "zyklischen Zeit", der ganz offensichtlich im Zusammenhang steht mit dem Adjektiv "nachtig" und so wohl auch meine Resonanz ausgelöst hat.

Mehrheitlich wird mein Leben und Arbeiten von einer Agenda dirigiert, die mir sagt wann ich was zu tun habe. Es gibt Freiräume darin, hart verteidigt, aber auch diese sind dann oft gefüllt mit einer inneren Checkliste jener Dinge und Aufgaben, die keinen eigenen Kalendereintrag beanspruchen. Die Eintragungen richten sich nach offiziellen Terminen, üblichen Arbeitszeiten und den Agenden der Menschen, mit denen ich dann gerade zu tun habe. Meine innere Uhr spielt dabei kaum eine Rolle.

"Die Mond-Zeit ist rhythmisch-periodisch, zunehmend und abnehmend, günstig und ungünstig. Als die den Kosmos beherrschende Zeit beherrscht sie die Erde, das Lebendige und das Weibliche." (S. 68)

Seit einigen Jahren bemerke ich eine immer stärker werdende Sehnsucht nach einem anderen Rhythmus, vielleicht ist Bio-Rhythmus dafür das stimmigste Wort. Mit der Sehnsucht kommt auch die Aufmerksamkeit und Wahrnehmung dafür, wie dieser sein könnte. Meine "innere Uhr" richtet sich an organischen, nicht an administrativen Bezügen aus: Da sind einmal die Jahreszeiten, die mit ihren Hell- und Dunkelzeiten starken Einfluss auf mich nehmen. Ich wache auf, wenn es hell wird und möchte eigentlich schlafen, wenn es draussen dunkel ist – zumindest fühle ich mich viel gesünder, wenn ich dem folge. Auch mein eigener Monatszyklus (Mondzyklus) nimmt spürbar Einfluss auf mein Befinden und die aktuelle Begabung. Viele Tage im Monat mag ich viele Kleinigkeiten erledigen und Checklisten abarbeiten, in Tagen vor meiner Menstruation ist das nur mit grösster Anstrengung möglich. Hier ruft vieles in mir nach Rückzug, nach Draussensein, Muse, Träumen und Visionen, in diesen Tagen erreichen mich Einfälle, wenn ich ihnen Raum gebe. Es ist die Zeit vom Empfangen, Annehmen, Einsinken, Brüten, Reifen, Warten - das ist mehr als deutlich. Es ist die Zeit unserer stärksten Bezogenheit zum Mond und damit zur Erde und zum natürlichen Zyklus von Leben, Wandel und Sterben. Vermutlich sind hier auch die Tore für mystische Verbindung weiter offen, aber das wäre ein eigener Beitrag.

"Das für das matriarchale Bewusstsein typische Austragen und Reifenlassen einer Erkenntnis bedeutet gleichzeitig einen Akt des Annehmens. Noch dem Begriff der Assimilation eines Inhaltes liegt dieses Annehmen zugrunde, der typisch weiblichen Form der Aktivität, die in keiner Weise mit einem passiv sich Ergeben oder Sichtreibenlassen zu verwechseln ist. Dass das Ich des matriarchalen Bewusstseins, verglichen mit dem des patriarchalen, passiver ist, liegt nicht an seiner Unfähigkeit zur Aktivität, sondern daran, dass es sich einem Prozess ausgeliefert weiss, in dem es nicht "tun" kann, sondern "lassen" muss." (S. 79)

Wie oft schon habe ich wochenlang versucht, einen Text zu schreiben und kam nicht voran. Und wie oft schon war ich deshalb unzufrieden, weil ich es wieder nicht geschafft hatte, mich zu disziplinieren, Freiraum zu schaffen etc. Und dann plötzlich, eines unscheinbaren Tages, geht es fast von allein! Ich denke mir dann noch: "Es musste halt einfach auf den richtigen Moment gewartet werden", und gehe die Sache beim nächsten Mal wieder genauso diszipliniert an. Wie viel Erfahrungen braucht es, um diesem Zyklus zu vertrauen?

"Günstig" und "ungünstig" ist eine Zeit, in der die von der Periodik des Unbewussten abhängige Geistesaktivität sich dem Ich zudreht, sichtbar wird und sich offenbart oder sich abwendet, sich verdunkelt und verschwindet. Die Aufgabe des Ich auf der Stufe des matriarchalen Bewusstseins ist es, günstige und ungünstige Zeit abzuwarten und abzupassen, sich mit dem wechselnden Mond in Übereinstimmung zu setzen und mit der von ihm ausgehenden Schwingung eine Konsonanz, eine Einstimmigkeit herzustellen." (S. 69)

Nun denn: Ich werde fortan sagen, dass ich erst schauen muss, ob der Mond "günstig" steht, bevor ich bestimmte Arbeiten annehme ;-) Ich fürchte, das wird schwierig... und das ist nur der Mondrhythmus, ich spüre auch Bezug zu den Windverhältnissen (auch wenn ich im Büro sitze), zur Sonne und zum Wachstumsstand der Pflanzen. Eines ist klar, das würde so manchen kulturellen Rahmen sprengen und – ganz ehrlich – zuallererst mal meine eigenen Ansprüche an meine Leistung, Zuverlässigkeit und Flexibilität. Aber wie sonst damit umgehen? Loslassen von inneren Bildern, Identitäten und Regeln, die allenfalls vielleicht nicht mehr passen oder noch nie gepasst haben? In die ich oder wir uns nur gefügt haben, weil die Kulturmaschine nun mal so gelaufen ist? Oder andere Aufgaben finden, die stimmiger sind, mehr den natürlichen Lebensrhythmen entsprechen und die Fähigkeit vom Empfangen mehr brauchen, als jene des Durchsetzens?

"Grundsätzlich geht innerhalb der abendländischen Menschheitsentwicklung die Tendenz dahin, die Domäne des patriarchalen Bewusstseins zu erweitern und ihr alles zuzuführen, was ihr nur anzugliedern möglich ist. Trotzdem ist das matriarchale Bewusstsein keineswegs eine überholte Funktionsweise des Bewusstseins oder ein Bezirk von Inhalten, die nur aus Trägheit nicht bis zum patriarchalen Bewusstsein entwickelt worden sind. Die Erkenntnisse der Mond-Seite sind, für unsere gegenwärtige Psyche jedenfalls, zum grossen Teil vom naturwissenschaftlichen Bewusstsein nicht erfassbar. Es sind die Lebenserkenntnisse allgemeiner Art, die von jeher Gegenstand der Mysterien und der Religion waren, und die zum Bezirk der Weisheit, nicht zu dem der Wissenschaft gehören." (S. 83)

Es sind komplexe Fragen, die allein kaum lösbar sind und ein Wandel ist nötig, der über die individuelle Lebensgestaltung hinausgeht – weit sogar. Sicher brauchen sie gelebte Erfahrungen und Beispiele, aber auch Austausch und Auseinandersetzung mit Weiblichkeit und matriarchalen Lebensweisen vor unserer modernen Kulturzeit. Die kommende Sanzala "Paradiesisches: Vom Wasser und vom Weiblichen" bietet hier bestimmt Impulse und Raum für Austausch.

Zurück zum Beginn und meiner neuen Wortliebe für "nachtig & tagig". Ohne wirklich zu wissen, wie sie gemeint waren, sind sie bei mir auf den im Beitrag beschriebenen metaphorischen Boden von Formen matriarchaler und im Gegensatz dazu patriarchaler Zugänge zu Lebensmoment gefallen. Wenn meine Freundin also auftauchen wollte aus ihrer Miteinbezogenheit des Unbewussten der Nacht, dann ist nun auch klar, warum das Wasser nicht die richtige Helferin war.


*Neumann, Erich (2008): Zur Psychologie des Weiblichen. Eranos Vorträge Band 4. Nordländer Verlag, Rütte
Quelle Foto: Hans-Peter Hufenus

PS: Die Zitate und meine persönliche Schwerpunktbildung entsprechen kaum der Tiefe und Komplexität des Vortrages von Erich Neumann. Er schreibt anspruchsvoll und doch gibt es viele weitere Textstellen die Resonanz finden und (zumindest bei mir) innerlich ein tiefes "Ja." erklingen lassen.
Die Begriffe "Matriarchat" und "Patriarchat" sehen wir allerdings kritisch, da sie "Herrschaften" beschreiben und nicht im Sinne egalitärer Gemeinschaftsstrukturen verstanden werden. Aber darauf wird speziell Hans-Peter Hufenus in seinen nächsten Vorträgen Bezug nehmen.