14. Juli 2017, Astrid Habiba Kreszmeier
Com tres dias de nascido, minha mãe me abençoou
me soltou na mata virgem, senhor Oxossi me criou.
Mit nur drei Tagen hier auf Erden, hat meine Mutter mich gesegnet und in den Wald gebracht.
Dort hat sie mich frei gelassen und Oxossi hat mich aufgezogen.
Eine Freundin ist gerade dabei für ihren Master in "Spirituality and Ecology", den sie am Schumacher College in England absolviert, eine Serie von Arbeiten zu verfassen. Jetzt zum Thema "wedding the wild" also zur "Heirat mit der Wildnis", das sie anhand von zwei Geschichten diskutieren soll, hat sie mich um Inspirationen gebeten. Fällt dir was dazu ein, fragt sie? Und dann ist mir als erstes "Com tres dias de nascido..." eingefallen. Zugegeben mit Hochzeit im klassischen Sinn hat das ja wenig zu tun, im Alter von drei Lebenstagen hat man schliesslich andere Bedürfnisse. Aber weil Einfälle eben ihr Eigenleben haben, die ihren Sinn oft erst später offenbaren, folge ich der Spur.
Zuerst aber zum besseren Verständnis: Diese Zeilen gehören zu einem Lied, das im rituellen Kontext von Orixátraditionen gesungen wird. Orixás sind kurz gesprochen heilige Kräfte der Natur, die ursprünglich zum Kulturraum der Yoruba gehören und sich mit der afrikanischen Diaspora mit anderen ähnlichen Prinzipien wie z.B. den Voduns, Inkises vermengt haben. In dieser bis heute andauernden Migration von diesen und anderen religiösen Kulturgütern haben sich verschiedene Formen von Traditionen der Orixás entwickelt. Gut.
Oxossi ist einer dieser Orixás und wird mit dem Wald und Waldwildnis in Verbindung gebracht. Es liegt Nahe, dass die Übersetzung in menschliche Gefilde Oxossi zum Jäger werden lässt. Oxossi ist also Wald und Jäger zugleich und zudem auch jene Kraft, die uns historisch durch die Jäger- und Sammlerzeit begleitet - also eine sehr, sehr lange Zeit.
Wir verlieren es inmitten all der dynamischen Stabilisierung* leicht aus den Augen und wenn wir es sehen oder erinnern, können wir kaum die Tiefe und die Länge jener Zeit erfassen. So anders haben wir gelernt und sind wir gewohnt zu schauen, dass diese lange, lange Jagdzeit - und der Wert in ihr - uns oft nur erreicht wie der Schweif eines Kometen: berührend aber schnell verglüht.
Hier nur zur Erinnerung, was auch der aktuelle Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis uns zur Menschwerdung erzählt. Wer diese Geschichte schon gut kennt*, sei eingeladen sich weiter unten wieder einzuklinken;-)
Da waren zuerst ungefähr 5 Millionen Jahre des evolutionären Übergangs von Primaten zu Homos. Dann kamen ca. 2,5 Millionen Jahre, in denen verschiedene Urmenschen lebten.
Erst vor ca. 200 000 haben wir uns als Homo Sapiens in der Welt bewegt und darin allerhand erlebt. Wir sind von Afrika aus in die Welt gezogen, wir sind bis auf einen Restbestand ausgestorben um dann in neuer Frische aufzublühen; wir haben uns mit anderen Menschenbrüdern und Schwestern vermischt, sie aber auch überlebt, verdrängt? Wir waren Grosswildjagdgruppen, später Kleinwildjagdkulturen und immer schon war das Sammeln ein Teil unseres Lebens. Erst vor ca. 12 000 Jahren haben manche von uns begonnen, Ackerbau zu betreiben und wir sind von da aus in zunehmender Geschwindigkeit mehr und mehr geworden. Es gibt viele eindeutige Hinweise aus der Archäologie und Anthropologie, dass wir in diesen Zeiten des Jagens und Sammelns und selbst noch in Zeiten des Ackerbaus mindestens in zwei Punkten massgeblich anders organisiert waren als heute:
1. Waren offenbar die natürlichen Ressourcen der Erde und die Zahl der Menschen und ihrer Kultur soweit balanciert, dass weder unser Planet noch wir Menschen unter uns selbst und unseren vitalen Bedürfnissen im Übermass zu leiden hatten. Hier und heute sieht das so aus.
2. Wussten die Menschen von damals offenbar intuitiv, dass sie aus zwei Geschlechtern bestehen, die beide zum Erhalt und Gedeih der Gemeinschaft beitragen. Das scheint heute auch irgendwie nicht mehr en vogue zu sein.
Unter Homo Sapiens erscheinen über Seiten! folgende Bilderverweise. Wo sind hier die Frauen?
Erst mit den knapper werdenden Ressourcen scheinen wir immer innovativer und in Menge immer "erfolgreicher", allerdings auch gewalttätiger und einengender geworden zu sein. Seit dem zunehmenden und schliesslich über viele Leichen von Männern und Frauen hinweg eingeführten und mit der Schrift kanonisierten Idee von Herrschaftsreligionen, die zugleich auch Herrschaftskulturen und Herrschaftsdenken fördern, war es um alte Weisheiten, die Leben als Zusammenspiel, Kooperation, Schönheit, Liebe, Sinnlichkeit, Verbundenheit und Geheimnis verstanden im grossen Stil vorbei. Wir sind in einer anderen Weltenwirklichkeit gelandet und es ist beileibe nicht einfach zu erkennen, was dazu beitragen kann, dass wir Menschen wieder unser Mass finden.
Aber es gibt unendlich viele Bewegungen, die sich darum bemühen, der Erde und ihren Elementen und Rohstoffen, den verschiedenen Menschen und Kulturen und auch den Frauen, ihre Rechte zukommen zu lassen, unterstützt von allen Disziplinen der Wissenschaft und teilweise sogar unterstützt von demokratischen Gefässen und privaten Initiativen. Und es gibt renommierte Schulen wie die Schumacher-Colleges, die wunderbare Lehrgänge anbieten und sich für die Heirat mit der Wildnis interessieren. Jetzt wieder zurück zu Oxossi.
Oxossi - hier in der in Brasilien üblichen Schreibweise auch bekannt unter Oshoosi, Ochosi, Osoosi - ist eine Weisheit, ein Bild, eine Geschichte, ein Tanz, eine Kraft - ein heiliger Raum. Er ist der wilde Wald, der alles in sich trägt. In Fülle und Mass: Pflanzen, Bäume, Minerale, Tiere, Wasser, Luft, Feuer. Er ist auch der Mensch in einem solchen Wald, der weiss in der Fülle seine Wege und sein Wohlsein, seine Nahrung und seinen Stamm zu finden. Und er ist wie oben erwähnt tiefe Geschichte, die in uns eingeboren ist.
Es erscheint ganz natürlich, ja unerlässlich, dass wir als kleine Kinder von dieser Kraft aufgenommen und erzogen werden müssen. Und welche Hingabe und welcher Mut der Mutter, ihr Kleines in Oxossi freizulassen! Wir dürfen annehmen, dass dieses Freilassen in Oxossi kein verantwortungsloses Aussetzen eines Neugeborenen in den Wald bedeutet. Vielmehr die Verbindung mit einer unerlässlichen - hier väterlichen, männlichen - Kraft, die Existenzsicherung und Arterhaltung in einer lebendigen Welt voller Lebewesen eingebunden sieht.
Minha mãe me abençoou, me soltou na mata virgem, senhor Oxossi me criou...
Wie oft habe ich diese Zeilen schon angestimmt, wie oft schon hat mich dabei eine grosse Liebe und Gewissheit erfasst, auch wenn ich ausreichend gut weiss, wie missverständlich all das durch unsere psychologischen und andere Denkfilter erscheinen kann. Ja - und wie missinterpretiert und missgeführt das Zusammenspiel von mütterlichen und väterlichen Rechten und Pflichten im Laufe der Menschheitsgeschichte war und ist. Aber das wäre noch mal ein nächster Beitrag.
Wedding the wild, will ich meiner Freundin sagen, ist etwas, das schon sehr jung beginnen kann, als Einweihung, als Anknüpfung, als Verbundenwerden mit dem irdischen Zusammenspiel der Kräfte.
* Dieses Bild zu Oxossi findet sich zur Zeit prominent im Netz, wenn man unter Oxossi sucht. Es ist von Menote Cordeiro. Ich möchte ihm von Ferne einen Dank aussprechen für das Bild, das in seiner Formensprache eindeutig westlich oder nördlich kulturiert ist, in seiner Symbol- und Farbsprache aber von Fülle und Einbettung und Schönheit erzählt.
* "Dynamische Stabilisierung" ist ein Begriff, den Hartmut Rosa in seinem Buch "Resonanz" definiert und als Bild für die aktuelle Dynamik unserer Weltwirtschaft beschreibt.
* Wer Zeit hat oder sich nehmen will, dem sei der lebendige Live-Mitschnitt des Vortrages von Hans-Peter Hufenus "Feuer und Religion" empfohlen.