1. Mai 2017, Astrid Habiba Kreszmeier
In der deutschen Sprache jedenfalls ist das, was uns heilig ist, zugleich unantastbar - oder wir wünschten, es wäre so. Es ist schützenswürdig und schützt, es ist aussergewöhnlich und tief, es ist reich an Schichten, die nur mehr beschrieben werden können aber jenseits der Erklärung liegen. Das Heilige entzieht sich dem Logischen, mit Vernunft ist ihm nicht beizukommen. Wir Menschen sind für das Heilige empfänglich. Und das hat vorderhand nichts mit Religion(en) zu tun, so wie diese wiederum nichts mit Gott oder Göttern oder Göttinnen zu tun haben. Auch wenn wir daran gewöhnt sind, diese "Dinge" als zusammengehörig zu denken - ich bestehe darauf, sie in ihrer Eigenständigkeit zu lassen.
Weil das Heilige aber eine menschliche Erfahrung ist, die unser Sein und Handeln beeinflusst, ist es von öffentlichem Interesse. Keine Kultur, keine Organisation oder kein System kann sich völlig frei flottierende Heiligkeiten erlauben. Selbst das Heilige hat sich also an Ordnungen zu halten.
Beziehung zum Heiligen ist somit eine öffentlich-rechtliche Angelegenheit. Und ob es uns gefällt oder nicht: wir haben gelernt und lernen beständig, was wir für heilig zu halten haben, wie sich das Heilige zeigt und wie wir ihm begegnen können.
Das Heilige ist eine Moral- und Orientierungsinstanz im Dienste einer Ordnung und kein freies Gut. So gibt es auf unserem Planeten also genau genommen nichts mehr, was wirklich (nicht nur metaphorisch) heilig sein darf.
Es schien offenbar das Sicherste, das Heilige aus der konkreten Lebenswelt hinaus zu exportieren. An einen exklusiven Ort weit weg, von dem aus es die Geschicke auf Erden absichtslos bezeugen oder - meist in Gestalt eines Gottes - rachsüchtig lenken kann.
Auch die Entheiligung der Erde war und ist also ein öffentliches Interesse, das sich seit ca. 2500 Jahren ausbreitet und seit 150 Jahren mit zunehmender Beschleunigung Wirkungen zeigt - verheerende Wirkungen für den Grossteil aller Menschen und das Lebendige an sich.
Ich erspare uns hier die zahlreich beweisführenden Bilder - es gibt sie. Und wie gut und wichtig, dass es sie gibt. Stellvertretend für das aussergewöhnlich Wahnsinnige, an dem wir Tag für Tag in all den Medien teilhaben, hier ein link zu einem Talk und der beeindruckenden Geschichte von Sebastião Salgado, Ökonom und Photograph aus Brasilien.
Wilde freie heilige Liebe
So schlimm es auch um uns Homo Sapiens in der Menge stehen mag, so raffiniert und transzendierend unser Geist auch ist: ganz will das Heilige sich nicht unterordnen. Es bleibt in vielen Formen gegenwärtig und findet als freies Heiliges oder auch wildes Heiliges seine Orte.
Plötzlich kann dann ein Baum, eine Quelle, ein Fluss, ein Berg wieder heilig sein und uns als etwas Heiliges entgegen kommen. Unmissverständlich heilig. Und uns damit in jene Form von Liebe verweben, die mit dem wilden Heiligen kommt - eine wilde freie heilige Liebe.
Es mag mich niemand falsch verstehen: die wilde freie heilige Liebe hat nichts mit Sex zu tun, aber durchaus mit Sinnlichkeit, Leiblichkeit, Konkretheit und Gegenwärtigkeit. Und sie hat etwas mit Beziehung zu tun. Mit Weltenbeziehung.
Die wilde freie heilige Liebe knüpft ein Band, knüpft viele Bänder zwischen mir und der Erde, zwischen mir und dem Raum. Freilich auch zwischen mir und anderen Menschen, aber das ist nicht ihre Hauptaufgabe. Ihre zentrale Wirkung entfaltet sich zwischen Mensch und Welt, sie lässt die verdinglichte, getrennte Welt zu einem lebendigen Gegenüber werden. Ihr zentrale Wirkung liegt in der Athmosphäre von Verbundenheit.
Das ist ein alter Hut, meinen die einen. Das ist ein utopischer Blödsinn, meinen andere.
Wie dem auch sei, interessant ist, dass aus verschiedensten Forschungsrichtungen aus Anthropologie und Geschichtswissenschaft, aus Archäologie und Soziologie aber auch Psychologie, Biologie, Medizin und Wirtschaft ein regelrechter Chor von Stimmen dem Diktat der Weltentrennung zuwider läuft, kluge vielschichtige Zeitanalysen anbietet und Bilder von Alternativen entwickelt.
Interessant ist auch, dass es unzählige Initiativen und Communities gibt, die sich um eine andere Beziehung zur Erde und den Umgang mit ihr und ihren Ressourcen bemühen. Dass es heute auch Internationale Welttage der Erde, des Wassers, des Waldes gibt. Dass es sogar schon Flüsse gibt, die als juristische Person anerkannt und ein Recht auf Stimme und Verteidigung haben und dass die Bilder von einem guten Leben immer stärker auch die Natur miteinbeziehen.
Wie sehr all diese engagierten Plädoyers und Initiativen auch ein Ausdruck von freier wilder heiliger Liebe sind, das bleibt ungewiss, aber es erscheint so.
Es scheint, als würde das ungezähmte, hierseiende Heilige auf ganz vielfältige und oft profane Weise ihre Stimmen finden. Sehr gut.
Das wilde Heilige setzt auf leibliche Verbundenheit.
Aus welcher Perspektive auch immer gesprochen wird, im Zentrum steht die leibliche Verbundenheit von Mensch und Welt bzw. ihr radikales Fehlen. Und um es nicht zu vergessen: es geht nicht nur um eine gefühlsmässige, imaginierte Verbundenheit sondern um eine leiblich erfahrene, gelebte Verbindung. Es lohnt sich, hier einen Augenblick zu verweilen.
In ihrem, im Herbst 2016, erschienen Buch "Das Tagebuch der Menschheit", betrachten die Autoren Carel van Schaik und Kai Michel die Bibel aus anthropologischer Sicht und leiten wesentliche Erkenntnisse rund um die Evolution des Homo Sapiens ab. Sie streichen heraus, dass die Menschheit mit dem Übergang zur Agrarwirtschaft, die als Antwort auf Nahrungsnotwendigkeiten der sich fortschreitend vermehrenden Spezies zu verstehen ist, aus dem Paradies vertrieben wurde und sich fortan "im Schweisse ihres Angesichts die Erde untertan" gemacht habe. Zeitgleich hat auch das Weibliche seinen ebenbürtigen Platz verloren. Die Erde und die Elemente, das Leibliche und das Weibliche müssen irgendwie zusammengehören und haben - gelinde gesagt - seither verspielt. Traurig und empörend.
Darüber singt auch Elza Soares, sie singt von den Frauen und im besonderen von der schwarzen Frau, sozusagen der Letzten in der Reihe der Hinteren.
Aber zurück zum Paradies, das die Autoren im Tagebuch der Menschheit
beschreiben. So betrachtet ist das Paradies nicht nur eine religiöse Fiktion, die - kaum war die Erde geschaffen und in ihr der Mensch - auch schon wieder verloren ging und seither ins Jenseits transferiert als Karotte vor dem Esel einiges Unheil anrichtet, sondern ein realer Zeitraum von vielen Zehntausenden von Jahren. Unsere Urahnen - so sind sich mittlerweile viele Forscher und Forscherinnen aus Archäologie und Anthropologie und Kulturgeschichte über Auswertung der Funde einig - haben in Jäger- und Sammlerzeiten offenbar gar nicht wild und primitiv ums Überleben gekämpft und einander die Köpfe eingeschlagen, wie wir uns das oft so vorstellen. Im Gegenteil - sie schienen in paradiesischen Zuständen der Fülle und Musse und der Egalität gelebt zu haben. Das sollte sich dann so ungefähr vor 12000 Jahren langsam verändert haben und ist ungefähr 500 vor unserer Zeitrechnung in einen Bewusstseins- und Strukturwandel übergegangen, der das Leibliche und Weibliche, sowie Erde und ihre Elemente konsequent abgetrennt, abgewertet und ausgebeutet hat. Nicht gut.
Der Ruf nach Verbundenheit, nach Veränderung unserer Weltenbeziehung, nach Ausprägung von wechselseitig vertrauenden Beziehungen, nach lebendiger Natur-Begegnung, nachhaltigem Umgang mit Ressourcen, ist ein (periodisch immer wieder auftauchender) Versuch, den Schnitt als Fehler zu erkennen. Sowas kann ja passieren, schliesslich sind wir ja auch nur Menschen. Von dieser Erkenntnis aus geht es also drum, neue Verbindungswege zu finden oder bereits Erprobte zu erinnern und in die Jetzt-Zeit zu holen.
Ob über Pionierleistung oder Erinnerungskunst: an der Anbindung, Belebung und Aufwertung des Irdischen, des Leiblichen und des Weiblichen kommen wir dabei nicht vorbei.
Davon erzählen übrigens viele Mythen aus dem Reich der Orixás,
von dem ich zugegebenermassen weit mehr zu erzählen weiss als über die Bibel. Das Heilige hat sich mir eben wild, das heisst körperlich, sinnlich, tanzend, schwitzend und auf Nebenpfaden präsentiert und ich bin an ihm nicht vorbei gekommen.
Jedenfalls gibt es in der Kosmologie und den Lehrgeschichten der Orixás auch manche, die von einer Zeit erzählen, in der die Orixás und die Menschen oder sagen wir das Sakrale und Profane, oder auch das Sichtbare und das Unsichtbare in bester Gemeinschaft und mit ausreichend Nahrung in allen Richtungen miteinander lebten, einander besuchten, durch Feste und Nöte gingen, einander Raum liessen und Geschichten erfanden. Eine Spielart von Paradies also. Und sie erzählen von verschiedenen Ereignissen, die dazu führten, dass diese Welten getrennt wurden, aber auch darüber, über welche Wege die Verbindung wieder oder immer wieder hergestellt wurde. Darüber erzähle ich gerne demnächst: nur so viel sei verraten: es hat oft mit den weiblichen Kräften zu tun. Einmal mehr.
Bücherempfehlungen:
Carel van Schaik/Kai Michel: Das Tagebuch der Menschheit
www.rowohlt.de/hardcover/carel-van-schaik-das-tagebuch-der-menschheit.html
Hartmut Rosa: Resonanz, Soziologie der Weltenbeziehung
www.suhrkamp.de/buecher/resonanz-hartmut_rosa_58626.html
Christina von Braun: Nicht Ich, Logik, Lüge, Libido
www.aufbau-verlag.de/index.php/nicht-ich.html
Annegret Stopczyk-Pfundstein: Nein danke, ich denke selber
www.zvab.com/buch-suchen/textsuche/nein-danke-ich-denke-selber-stopczyk-annegret/