Für Ogum

23. April 2020, Iya Habiba

Patacori Ogum

Früher lebten Orixás und Menschen in Einklang und Gleichheit und Freude. Sie jagten und sammelten und bestellten die Erde. Ihre Werkzeuge waren aus Holz, aus Stein und da und dort gar schon aus weichem Metall. Sie lebten gut und vermehrten sich. Irgendwann jedoch wurde das Essen knapp und es schien notwendig, eine grössere Fläche des Landes zu bestellen. Das war zu der Zeit keine einfache Sache. Die Orixás versammelten sich, um zu besprechen, wie sie die Fläche ebnen und die Bäume ausreissen könnten.

Ossaim, der Orixá der Blätter, bot sich als Erster an, das Land vom Gestrüpp zu befreien. Seine Machete war aber zu schwach und er scheiterte, sowie alle anderen Orixás, die sich nach ihm an diese Aufgabe wagten. Ogum hatte sich bis dahin nicht gemeldet, obwohl er in das Geheimnis des Eisens eingeweiht war. Nachts, als alle anderen Orixás schon schliefen, nahm Ogum seine eiserne Machete und bereitete die neue Fläche beinahe mühelos vor. Am nächsten Morgen staunten die anderen nicht schlecht und erkannten bald, welch grosse Möglichkeiten in diesem besonderen Material lagen, das Ogum Eisen nannte und zu dem bislang nur er Zugang hatte.
Sie begannen Ogum zu bedrängen, auch ihnen das Geheimnis des Eisens preiszugeben, doch dieser blieb lange standhaft. Ob er ahnte, was damit alles geschehen würde?
Schiesslich aber nahm er einen Königsrang im Tausch gegen das Geheimnis des Eisens an. Freilich wollten auch die Menschen nicht zurückbleiben und irgendwann liess er auch sie am Geheimnis des Eisens teilhaben. Dann dauerte es gar nicht lange, da besass jeder Jäger sein eigenes Eisenwerkzeug und Krieger und Kriege wuchsen wie Pilze aus dem Boden.

Obwohl Ogum das König-Angebot der Orixás angenommen hatte, war er dennoch vor allem ein Jäger. Eines Tages ging er auf die Jagd und kehrte lange nicht nach Hause zurück. Vielleicht, weil das Jagen sehr schwierig war? Vielleicht weil ihm das Leben als eiserner König gar nicht behagte?
Als er nach vielen Tagen in der Wildnis zurückkehrte, war er voller Schmutz und völlig unansehnlich. So sahen die Orixás ihren Herrn gar nicht gern. Sie verachteten ihn dafür und entschieden, ihn vom Thron stürzen. Ogum war sehr enttäuscht von solchen Machenschaften.

Er nahm ein rituelles Bad, kleidete sich mit seinem Rock aus Palmenblättern, nahm seine Werkzeuge und ging fort. An einem fernen Ort, baute Ogum unter einer Kokospalme sein Haus und blieb dort.
 


Guerreiro als Gefährte

Als ich vor mehr als 25 Jahren in Brasilien diesem in jeder Hinsicht unerklärlichen Ruf der Orixás folgte, wurde ich gar auf die Probe gestellt. Ich fand mich nicht im Urwald oder wenigstens in einem Hinterland wieder, sondern in einer Randzone von São Paulo Megacity. Viel Verkehr, viel Lärm, viele Menschen, gross, klein, dick, dünn, weiss, schwarz und alles dazwischen, Trommeln, Geschrei, Türsteher, Gedränge, Hitze. Und Rituale, Tänze und Begegnungen, die meiner Vorstellung von Naturheiltradition und spiritueller Praxis einen radikalen Strich durch die Rechnung machten. Die Krönung meines widerständigen Entsetzens durchlebte ich, als zu einem bestimmten Zeitpunkt des Rituals manche Trancetänzer mit Blechhelmen ausgestattet wurden, die mich augenblicklich an die Kopfbedeckung der römischen Legionäre in Asterix und Obelix erinnerten. Eine kundige Nachbarin klärte mich auf: «São os Caboclos de Ogum, guerreiros da paz!» Krieger des Friedens also. Das beruhigte mich leider gar nicht, sah ich doch mehr als deutlich ein Gemisch von Kreuzritter-, Drachentöter- und edlem Heldentum der abendländischen Geschichte. Was hatte das unter den Orixás oder unter den Caboclos zu suchen?

Es muss eine Finte des Zufalls gewesen sein, die mich im Gewusel der Ereignisse just vor einem dieser Guerreiros stehen liess. Da wurde es schlagartig ruhig, gesammelt, gehalten. Er hielt mich kurz an den Schultern, sprach in seiner Sprache zu mir, legte für einen kurzen Moment seinen Mantel behutsam um mich. Das war kein Ritter, kein Krieger, kein Held. Das war ein erfahrener Gefährte, der mir einen Weg zeigte, der einen Weg öffnete.

Ich war einer Kraft begegnet, die Geleit schenkt und die Hand reicht.
Ich war einer Kraft begegnet, die Mut ohne Eitelkeit lebt und lehrt.
So hat sich mir Ogum gezeigt: Kraftvoll und fürsorglich.
Ogunhê, meu pai!
 


Ogum der Moderne

Diesem tiefen Eindruck von den psychologischen Resonanzen von Ogum bin ich während all der Jahre treu geblieben, auch wenn die Bilder und Ideen rund um Ogum im Feld der Orixás oft anders gezeichnet sind: Als Orixá des Eisens, des Krieges und der Technik ist Ogum nahezu das Sinnbild prägender Dynamiken unserer «modernen» Welt und ihrer Geschichte, die sich um die Idee vom fortwährenden Fortschritt rankt. Ogum schlägt Schneisen und eröffnet Wege, er kennt keine Grenze, verfolgt sein Ziel mit schier unerschöpflicher Kraft, er dient in all dem dem Guten, allenfalls einem göttlichen Plan, auf den die Menschheit zusteuert. Dazu muss er weibliche Kräfte vergewaltigen und in seinem ungebremsten Blutrausch sein Volk niedermetzeln. Viele Geschichten von Ogum lesen sich wie ein Spiegel für Geschehnisse, die Teil unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit geworden sind. Durchdrungen von der Idee des wachsenden Fortschritts, die im Dienst der Entfaltung des «Einen grossen Willens» weltweite Ausbeutung rechtfertigen und in welcher der Krieg noch immer als Vater aller Dinge angesehen ist, regiert ein pervertierter Ogum. Der Herr der Werkzeuge selbst zum grossen Werkzeug verdammt. So habe ich ihn nicht kennengelernt.

Auch im Feld der Naturresonanzen scheint Ogum mächtig missverstanden. Ogum ist Feuer, Ogum ist Bewegung, ja, Ogum hält als Prinzip die Weltenbewegung in Gang. Ja, sind denn nicht kreisende, rhythmische Bögen, Wellen und Kurven, in einander greifende, einander umfassende, symbiotisch sich bildende Organismen und Welten das Prinzip der biologischen, physikalischen, chemischen Weltenbewegung? Ist nicht alle Stabilität der Atmosphäre unseres Planeten und «seiner» Sonne durch ständige Kreisläufe und Austauschbewegungen gegeben? Ist es nicht so, dass es in der natürlichen Welt keine immer nur in eine Richtung weisende Bewegung, also keine gerade Linie gibt?  Wenn Ogum also das Prinzip unserer Weltenbewegung und Weltenverfasstheit ist, wie konnte es geschehen, dass er zum Hüter der Linearität, des Fortschritts, der Entgrenzung wurde? Hat man Ogum einer Gehirnwäsche unterzogen? Oder wurden seine Kurven und Bögen geradegebogen und Ogum ist schon lange ausgezogen?
 


Weisheit in Gemeinschaft

Tatsächlich sprechen doch einige – wenngleich nicht die bekanntesten – Geschichten von Ogums Burnout, seinem Ausbrennen. Er will nicht immer und ständig mehr «schmieden, kriegen, schmieden», er will nicht mehr Held sein und schon gar nicht König. Er will nicht mehr immer auf das gleiche Bild reduziert sein, er will das sein, was er früher war: ein Jäger in einer Gemeinschaft mit besonderer Gabe und so zieht er in die Wälder. Das ist ein Ogum, der spürt, alles muss seine Grenzen haben, will es lebendig sein. Ogum ist weiser als man meint. Das ist kein kopfloser Kraftprotz, zu dem er im Laufe der Jahrhunderte in den Überlieferungen geworden ist.

Und ganz nebenbei wird in vielen Geschichten auch eine unbekannte Seite von Ogum deutlich. Ogum ist aufmerksam und reicht Hände, er holt sich Hilfe, wenn er es braucht, er hilft, wenn er es kann: Macht er nicht für Obaluaie ein Kleid, damit er auch zum Fest kommen kann? Bittet er nicht Ossaim um Hilfe, wenn es um die Krankheit einer jungen Frau geht? Sucht er nicht seinen verlorenen Bruder in der Wildnis und trägt ihn auf dem Rücken zurück in Dorf? Kraftvoll und fürsorglich. Ogunhê, meu Pai.

Mag sein, dass du, Ogum, auch Krieger bist, ein Krieger der Ermutigung. Vielleicht hat gerade dieser Ogum mich ermutigt, das Wagnis eines unbekannten Weges einzuschlagen, durch viel Dickicht hindurch bis heute. Und vielleicht ist es auch genau jener Ogum, der mir zuruft und mir als Mãe de Santo Mut macht, in unserem Terreiro an den anderen Ogum zu erinnern, ihn zu ehren, ihn zu rufen und ihn zu bitten, auf seine alte Weise seinen «Filhos und Filhas», seinen Verbündeten weises Geleit zu schenken?
Axé, Iya Habiba
 




Kommentare

04.05.2020 | Silvia Heller

Liebe Iya Habiba,
du schreibst in diesem so berührenden Beitrag "Für Ogum ....Ogum ist aufmerksam und reicht Hände, er holt sich Hilfe, wenn er es braucht, er hilft, wenn er es kann." Gerne will ich auch aus meinen Erfahrungen mit meinem Caboclo de Ogum Beiramar etwas erzählen. Ich bin ihm seit so vielen Jahren innig und in grosser Liebe verbunden. Eine Freundschaft, eine sanfte Kraft, auf die ich mich verlassen kann, wenn ich mich ihrer erinnere. Auch innigste Freundschaften kennen Zeiten der Nähe, die sich abwechseln mit Zeiten der grösseren Distanz. "Ogun ...er holt sich Hilfe, wenn er es braucht..." Na ja - das funktioniert nicht immer so gut. Ich kenne zwar viele Situationen in meinem Leben, wo es mir überhaupt nicht schwer fällt, jemanden um Hilfe zu bitten. Ebenso kenne ich es, dass ich sogar "vergesse", dass es noch Menschen in meinem nahen Umfeld gibt, die ich um Hilfe bitten könnte, um mir in oder aus einer schwierigen Lage zu helfen. Zum Glück gibt es dann immer wieder Freundinnen und Freunde, die mir liebevoll ihre Hand reichen, ohne dass ich sie mit Worten darum gebeten habe.
"... schmieden, kriegen, schmieden" Wenn es ihm zuviel wird, zieht sich Ogum ins Dickicht der Wälder zurück. Der Wald ist in unserem dicht besiedelten Land zwar nur selten Dickicht, doch immer ein Ort der Erholung vom Zuviel des Alltags. Meistens. In unseren Wäldern ist es in den aktuellen Zeiten des verordneten Rückzugs so eng geworden, dass selbst da von kleinen Kriegen zwischen den Ruhesuchenden berichtet wird. Wohin also soll der von Krieg und Kampf müde gewordene Ogun sich zurückziehen?
Glücklicherweise ist Ogum nicht nur Krieger und schlägt Wege mit seiner Machete aus Eisen. Deine Beschreibung der sanften Seiten von Ogun erzeugt bei mir grosse Resonanz. Du berichtest von einer so schönen Begegnung mit einem Caboclo de Ogum in Brasilien. Er trug zwar einen seltsamen Eisenhelm, doch als du ihm begegnet bist, legte er seinen Mantel beschützend und liebevoll um dich. Wie wohltuend - für dich und sicher auch für ihn. Ich liebe die Momente, wenn mein Caboclo in einer Gira Gäste auf diese Weise umarmt, beide ruhig umhüllt in seinem Mantel. Kraft, Stärke, Sanftheit in einem. Begegnungen innigster Verbundenheit, Verstehen, Trost ohne Worte.
Saravá Senhor Ogum - Ogunhê meu Pai.
Axé, Silvia



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