24. Mai 2020, Sylvia Thoma
Es gibt viele Theorien, Mythen und Vorstellungen, wie unsere Erde entstanden ist, wie das erste Leben und wie sich der Mensch daraus entwickelt hat. Eine spannende Beschreibung ist mir kürzlich im Buch von Erwin Thoma «Strategien der Natur» begegnet. Der Förster und Holzbauingenieur beschreibt die wissenschaftliche Sichtweise und zugleich erzählt er eine mythische Geschichte, denn er ist einer, der die Natur als Wunder sieht und mit Leidenschaft über die Heilsamkeit der Naturräume schreibt.
Thoma erzählt, wie vor Milliarden von Jahren eine unscheinbare Blaualge einen Wassertropfen aufnimmt und sich so ein unbekanntes Bakterium einverleibt. Die Blaualge versucht mit allen Mitteln dieses fremde Wesen abzuwehren, produziert alle möglichen Säfte und zusammen mit dem Licht, das auf die Alge fällt und dem Wirken des Bakteriums, wird die Alge plötzlich grün, Chlorophyll entsteht. Die Alge konnte nun erstmalig CO2 einatmen und so eine unerschöpfliche Nährquelle anzapfen. «Im ersten Augenblick muss die Verwirrung rund um die unerwartete Veränderung gross gewesen sein. Die Alge badete plötzlich in Nährstoffen, die sie bereitwillig mit ihren Gastgebern rundherum teilte. Nichts sollte die Erde mehr verändern als dieser Prozess: CO2 wird von der Pflanze eingeatmet und überschüssiger Sauerstoff wird wieder ausgeatmet, der Luft zurückgegeben.»
Mir scheint, dass sich durch den Beitrag aller Naturkräfte, der Sonne, dem Wasser, den Nährstoffen aus den Felsen, das grüne Leben auf der Erde entfaltet und verbreitet hat. So ist es wohl kein Zufall, dass diese Elemente in vielen Mythologien und Denkweisen als grundlegend angesehen werden, als welterschaffend und erhaltend. Auch in der Orixátradition.
Es entstand eine Vielfalt an Pflanzen. Dann vor 350 Millionen Jahren «erfand» in der kreativen Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten und den Mitlebewesen eine Pflanze das Verholzen der Stängel und die Bäume entstanden, Wälder breiteten sich aus und in Folge wurden grosse Teile der Erde von einer fruchtbaren Humusschicht überzogen.
Die Pflanzen und Bäume verwandelten mit ihrem Gedeihen den hohen CO2 Gehalt in der Luft in Sauerstoff. Diese Veränderung der Erdatmosphäre hatte eine beruhigende Wirkung auf das Klima und nur so konnten sich allmählich die Tiere und später die Menschen entwickeln. Erwin Thoma: «Die Pflanzen und Bäume sind die Geburtshelfer von uns Menschen […] So gesehen sind wir aus dem Wald gekommen.»
Ohne Bäume und Pflanzen wäre unsere Atmung undenkbar. Und noch viele weitere Gaben haben die Menschen seit ihrem Erscheinen vom Wald erhalten. Er bot ihnen Schutz und schenkte ihnen und schenkt uns immer noch, eine Vielfalt an Nahrung, erfreut uns mit Gewürzen und wertvollen Ingredienzen für Düfte und Heilmitteln. Der Wald gab den ersten Menschen das Holz fürs Feuer, für Werkzeuge, Pfeil und Bogen. Die ersten Häuser bauten die Menschen aus Holz, auch den Einbaum, die Musikinstrumente.
Das Leben des Menschen ist seit unserem Erscheinen auf diesem Planeten eng mit dem Wald verbunden. Durch diese Millionen Jahre alte Geschichte wirken immer noch ganz viele urzeitliche Prägungen in unserem Körper und unserer Seele. Intuitives Wissen über die Giftigkeit oder Essbarkeit der Pflanzen, aber auch der Duft von Holz und seine energetische Ausstrahlung sind noch in uns gespeichert. Sie rühren uns an, beim Spaziergang durch den Wald, sie beruhigen uns beim Schlafen in einem Raum aus Holz.
Erwin Thoma weist noch auf eine weitere interessante «Verwandtschaft» zwischen Baum und Mensch hin: Die chemische Formel von Chlorophyll zeigt in der Mitte ein kleines Magnesiumatom, umgeben von vier Stickstoffteilchen, welche, wie bei einem Schneekristall, von einer Konstruktion aus Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff umgeben ist. Tauscht man dieses Magnesiumatom mit einem Eisenatom aus, entsteht Hämoglobin, der Stoff, der unsere roten Blutkörperchen bildet!
Und da kommt mir ein Lied aus unserer Tradition in den Sinn: «vermelho e a cor do sangue do meu pai e verde a cor das matas …». Es ist ein Lied für den Caboclo «Rompe Mato». Die Caboclos und Caboclas sind, wie Iyalorixá Habiba kürzlich schrieb, «Natur-, Schutz- und Ahnenkräfte die überall auf der Erde leben und die Kräfte der jeweiligen Landschaft repräsentieren». So sind sie auch Expertinnen und Experten in der Beziehungspflege mit dem Wald in seiner Vielfalt und mit seinen Bewohner*innen.
Und so sind sie für uns auch Vermittler*innen zu den Weisheiten der Jäger und Sammlerkulturen von ehemals und den noch heute lebenden indigenen Völkern. Unsere Urahn*innen nahmen diese Verwandtschaft mit den Naturkräften wahr und auch ernst. Sie pflegten die Beziehung zu den Mitlebewesen und Naturkräften, sie wollten auch geben, nicht nur nehmen. So entstanden Lieder und Geschichten für die Bäume, die Wälder, für ihre Hüter und Hüterinnen. Unter dem grossen Baum im Dorf wurden die Geschichten weitererzählt, dem Baum für seine Inspiration und Unterstützung gedankt. Allen Völkerverschiebungen und Modernisierungen zum Trotz, wurden die Traditionen der Beziehungspflege weitergeben und haben bis heute überlebt.
Und noch eine weitere Weisheit stellt uns dieser Naturraum zur Verfügung: Der Wald ist ein grosser zusammenhängender Organismus. «Im Wald wird anfangs um die Wette gelaufen, gerungen. Wenn die Plätze verteilt sind, überwiegt aber das Konzept der Kooperation», sagt Thoma. Jedes Waldwesen stellt sich mit seinen Fähigkeiten und Spezialitäten, mit seinem Bestreben, ein gutes Leben zu führen, der Gemeinschaft zur Verfügung, trägt seinen Teil dazu bei. Diese Kooperation, diese Verschränkung zwischen Bäumen, Pflanzen und Pilzen, scheint mir in jüngster Zeit von der Wissenschaft neu entdeckt zu werden, neu ins menschliche Bewusstsein zu kommen. Es ist auch höchste Zeit. Indem der Mensch sich aus dem Naturzusammenhang herausgehoben hat, sich abgehoben hat, ist er ein Fremdkörper geworden, der die Natur beurteilt in brauchbar -nicht brauchbar und ihr den Kampf ansagt, sie seinem Willen unterwirft.
«Wir sind das erste Wesen auf diesem Planeten, welches die Schöpfung bekämpft, die uns hervorgebracht hat.» Und wer kämpft und Macht ausübt erntet Kampf und Gegendruck. Auch auf diesem Gebiet kann der Wald unser Lehrer sein, können die Bäume unsere Begleiter werden.
Welche Fülle an Vielfalt und Lebendigkeit im Aufblühen und Vergehen zeigt sich mir da! Ein Raum, in dem es allen Teilnehmenden darum geht, das Leben zu fördern, kontinuierlich, jeder Tannennadel, jedem Käfer, jedem Pilz.
Der Wald ist ein Ort der Möglichkeiten. «Es ist eine Welt, die auf unendliche Potentiale in jedem Einzelnen setzt, auf Vielfalt, Kreativität und Kooperation. […] so entsteht am Ende eine Lebensgemeinschaft in der kein einziger Teilnehmer dem anderen gleicht.»
Auch über das Sterben können uns die Bäume viel lehren, findet Thoma.
Wir erkennen, dass die grosse alte Eiche und der vom Wetter gezeichnete Stamm der Tanne eine tiefe lebensbejahende Schönheit ausstrahlen. Wir sehen, wie auf morschen Baumstrünken Pilze spriessen und so mithelfen, dass sich dieser Baum in Humus verwandeln kann.
Dieses Altwerden und Sterben schockt mich nicht, im Gegenteil, es verbindet mich mit dem Leben, das auch Sterben heisst. Ich fühle mich im Wald oft einfach aufgehoben und mit dem Lebendigen verbunden. Ist dies, weil an diesem Ort das Verletzte, das Sterbende und das neu Spriessende so selbstverständlich zusammengehören und das Sterben offensichtlich gleich viel Sinn macht, wie das Spriessen von neuem Leben?
Wenn mich etwas beschäftigt, gehe ich in den nahen Wald, zu «meinen» Bäumen. Ich habe den Eindruck, auch sie kennen mich mittlerweile und ich sehe, wie sie sich verändern, wachsen. Ich geniesse ihr Dasein, diesen Reichtum, die Präsenz all dieser Wesen, grosse, riesige und winzige. Ich «höre» dankbar ihre weisen Antworten auf meine Fragen und schenke ihnen ein Lied.
Erwin Thoma «Strategien der Natur» 2019 Benevento Verlag, München
Anmerkung: Die Namensgleichheit der Autorin dieses Blog-Beitrags mit Erwin Thoma ist zufällig :-)
Bekommt ihr in der Schweiz auch Zotter Schokolade? Vor gar nicht langer Zeit habe ich im Stiegenhaus ein "Waldstück" übergeben bekommen. So etwas Gutes ! Schokolade erinnert mich immer sofort an Camarinha.
Da schwingt was :-)
Liebe Silvia, herzichen Dank für deine Gedanken und das Erinnern an diese wunderbare Kraft des Waldes, der Bäume und dieses vielfältigen Lebensraumes mit all seiner Weisheit an dem wir immer wieder teilhaben dürfen, wenn wir uns aufmachen, spüren, hören, sehen. Axe
Was für ein schöner Text. Ich werde ihn bestimmt und gerne noch öfter mal lesen. Danke.