05. Juni 2020, Iya Habiba
Der Begriff einer vertikalen Territorialität war mir bislang nicht begegnet und ohne kontextuale Einbettungen wären meine ersten Assoziationen vermutlich zu rechtlichen Fragen bei Hochhausbauten oder Hochbahnen in Städten gedriftet, allenfalls auch hin zu Raketenstationen oder Satellitenabschussrampen. Das sind ja eigentlich auch wichtige Fragen, über die ich mir noch nie wirklich Gedanken gemacht habe. Wie weit darf man sich als Besitzer eines messbaren Grundstückes nach oben ausdehnen? Wie hoch darf man hinaus? Wie hoch darf man es springen oder knallen lassen? Und wie weit darf man nach unten graben, wie sehr darf man bohren und rausziehen?
In städtischen Gebieten regeln da ja gewisse Bauzonen-Gesetze, bauliche Übereinkünfte oder auch der Ortsbildschutz und ich nehme an auch ökologische, biologische, geologische Bedingungen und generell freilich geopolitische Abkommen. Das ist alles sehr komplex, selbst wenn wir uns nur auf jene menschen-orientierten Lösungen, die solche Gesetze für gewöhnlich darstellen, konzentrieren. Wie komplex wird es erst, wenn wir uns fragen, ob die nicht-menschlichen Bewohner dieses Landstückes, auf dem wir bauen oder in das wir bohren wollen auch irgendeine Relevanz haben?
Sind unsere Vorstellungen von Recht und Gesetz hier angemessen?*
Nun, all das wäre mir eingefallen, hätte ich mich mit dem Begriff der territorialen Vertikalität bzw. der vertikalen Territorialität beschäftigt, aber zu mir gekommen ist er erst durch einen Beitrag von Thomas Niederberger im Alternautas Blog. Dort schreibt er über den politischen Kampf der Wampis im nördlichen peruanischen Amazonasgebiet um Boden- und Landrechte und zitiert aus deren Verfassung, im Artikel 21)
The territory of the Wampis nation integrates diverse spaces whose inhabitants are all related to each other. Entsa, the aquatic space, is where the tsunkishuar live. Nunka, the earth space, is inhabited by [...] human beings, the animals and their owners, iwanch and tijae, the plants and their mothers, particularly nunkui, who lives inside the earth, as well as the rivers, hills and waterfalls. Nayaim, the air, or heaven space, which is not separated from earth, is inhabited by Etsa[sun], our guide, yaa[stars] and Nantu[moon] as well as ujumak and many more beings that give us their power, and this is where our ancestors dwell. All these spaces are alive and depend on each other. Our nation and its people are part of this territory. (Statute of the Wampis Nation, Article 21: Cultural definition of the Wampis territory, author’s own translation).
Dieser Verfassungsartikel beschreibt die verschiedenen Bewohner ihres nationalen Territoriums, die alle zueinander in Beziehung stehen:
Im Wasserraum Entsa lebt Tsunki Shuar. Der Erdraum Nunka ist von Menschen und Tieren bewohnt sowie ihren Eigentümern, den Iwanch und Tijaes; den Pflanzen und ihren Müttern, besonders Nunkui, die in der Erde lebt, ebenso von Flüssen, Hügeln und Wasserfällen. Der Luft- oder Himmelraum Nayim, der nicht von der Erde getrennt ist, wird von Etsa, der Sonne, die uns führt, von Yaa, den Sternen, und Nantom dem Mond bewohnt. Auch Ujumak und viele andere Wesen, die uns ihre Kraft schenken, leben dort gemeinsam mit unseren Ahnen. All diese Räume sind lebendig und aufeinander angewiesen. Unsere Nation und ihre Völker sind Teil dieses Territoriums.
Diese Verfassung nennt namentlich auch die unsichtbaren Bewohner und «Eigentümer» des Gebietes und lassen sie Teil ihrer Verfassung sein. Sie sprechen nicht von Ökologie und Umweltschutz, sie benennen ihre sichtbaren und unsichtbaren Nachbarn, Verwandten, Freunde, mit denen sie seit Generationen und Generationen zusammenleben und kommunizieren. Das hat mich berührt, das macht so viel Sinn.
Hier war sie wieder, die vertikale Weltenachse, hier in Form einer vertikalen Territorialität.
Allmählich wurde mir klar, wieviel all das auch mit mir und mit dem Terreiro, ja ich vermute mit den meisten Terreiros und vielen anderen Gemeinschaften zu tun hat. Hier wieder eine kleine Anekdote aus den Anfängen meiner Umbanda-Lehrjahre:
Als sich Mitte der 90-iger Jahre eine kleine Gira-Gruppe zu formieren begann, stellten sich bald Fragen zu Organisation und Rechtsform für etwas, dass es eigentlich nicht gibt. Letztlich blieb der Verein als eine mögliche, wenngleich nicht gerade attraktive Form, denn wer will schon Vereinsmeier sein? Wir haben uns, soweit ich mich recht erinnere, lange ohne jede Formalorganisationen durchgesungen und durchgetanzt, aber irgendwie wollte ich doch jenem Caboclo Guaracy, der mich so berührt und mein Leben auf den Kopf gestellt hatte eben auch im normalen Alltäglichen einen Platz geben und ich kam auf die zugegeben absurde Idee, ihm ein Postkonto einzurichten. Nicht dass ich wohlhabend gewesen wäre, nein, aber es ging mir um ein Zeichen, einen Akt. Damals gab es so «anonyme» Namenskonten und so wollte ich Guaracy ein Konto widmen. Kennwort Caboclo (Mehr kann ich hier nicht verraten ;-) Wie naiv von mir zu glauben, ein Konto würde ohne Menschen und ohne nachweisliche Adresse auskommen! Das geht ja gar nicht, macht ja auch nicht viel Sinn. Was sollte denn ein Caboclo mit 100.- Schilling anfangen? Dennoch war es ein interessantes Gespräch am Postschalter: «Wer ist denn der Herr Guaracy, für den sie hier ein Konto einrichten wollen? Und wieso macht er es nicht selbst?» …
Es ist offenkundig: Caboclos sieht unsere Verfassung nicht vor. Auch nicht Orixás oder andere Kräfte und Namen aus dem unsichtbaren Freundeskreis, mit denen Terreiros kontinuierlich Kontakt und Beziehung pflegen. Als wir vor 20 Jahren im Appenzellerland ein altes, verfallendes Haus erwerben konnten, war bald klar, dass wir diesen Raum auch und ganz besonders diesen unsichtbaren Freunden widmen werden. Manchen davon haben wir dort eine sichere Verortung geboten und viele waren schon da und wir durften sie über die Jahre immer besser kennenlernen, mit ihnen zusammenleben. Wir sind hier eine grosse Wohngemeinschaft von sichtbaren und unsichtbaren Kräften, ein vielschichtiges, vertikales Territorium.
Vielleicht sollten wir eine Grundbucheintragsänderung beantragen? Nach dem Vorbild der Wampis könnte es für unseren Terreiro am Rosenhof in Stein AR so heissen:
Im Wasserraum Sitter lebt Oxum gemeinsam mit den Marinheiros. Er wird vom Fels- und Feuerraum Xangô eingefasst und gesammelt. Onilé, der Erdraum ist von Menschen und Tieren sowie von ihren Eigentümern Irokô und den Caboclos und Caboclas und Pretos Velhos e Pretas Velhas, Exus und Pombogiras bewohnt; auch von den Pflanzen und ihren Müttern und Vätern, besonders von Obã, Oxossi, Ossaim und Obaluaie, der in der Erde lebt, und auch von Hügeln, Quellen, Bächen und Teichen, Nana, Ewa und allen Iyabas. Der Luft- oder Himmelraum Olorun, der nicht von der Erde getrennt ist, und durch Ogum und Yemanjá mit unserem Sonnen- und Weltenraum verbunden wird, ist auch von Oxumaré und Iansã und Orunmilá und Oxalá und vielen anderen Wesen bewohnt, die uns Kraft geben und durch die unsere Ahnenquellen leben. All diese Räume des Terreiros am Rosenhof sind lebendig und aufeinander angewiesen.
Ich danke den Wampis und vielen anderen indigenen Völkern und ihren Freunden und Freundinnen. Ich wünsche innig, dass ihr Einsatz lebendige Früchte zeigt, dass sie und ihre vertikalen Freunde nicht nur überleben, sondern auch gut leben können und dass ihr Denken und ihre Schau auch unsere Denktraditionen zu verflüssigen und zu schulen vermag.
*It´s wrongheaded to protect nature with human-style rights, Anna Grear, Professor of Law at Cardiff University in the United Kingdom. https://www.humansandnature.org/it-is-wrongheaded-to-protect-nature-with-human-style-rights
“Were there nonhumans in Bagua? The Gobierno Territorial Autónomo de la Nación Wampis and the emergence of vertical territoriality in the northern Peruvian Amazon”, Thomas Niederberger. http://www.alternautas.net/blog/2020/2/12/were-there-nonhumans-in-bagua-the-gobierno-territorial-autnomo-de-la-nacin-wampis-and-the-emergence-of-vertical-territoriality-in-the-northern-peruvian-amazon
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