3x vertikal - Teil 1

17. Mai 2020, Iya Habiba

Habiba Kreszmeier wird den Begriff des Vertikalen aus drei verschiedenen Perspektiven aufgreifen. Sie beginnt mit:

Vertikale Weltenachse

Als ich vor knapp dreissig Jahren durch jene spontane Verkettung von Ereignissen und Entscheidungen, die das Leben ausmachen, mit Caboclos und Orixás und damit auch mit jener Ganzkörpertrance, der Inkorporation, zu tun bekam, stellten sich mir viele Fragen.

Was ist eine Inkorporation?
Was geschieht da?
Wozu geschieht es?
Was geschieht dabei wem was?
Wem dient es?
Geschieht es wirklich?

All diese Fragen haben mich sogar an die Universität Wien gelockt, wo ich zwei Semester intensiv am Institut für Völkerkunde (heute Institut für Sozial- und Kulturanthropologie) studiert habe. Mein wissenschaftlicher Mentor dieser Zeit war Dr. Manfred Kremser. Er war Afrika, Kuba, Diaspora «Spezialist», seine Schwerpunkte religiöse Kultur und Bewusstseinsforschung. Er war ein bekennendes «Feld(forschungs)schwein» und kam dem Feuer des Unerklärlichen sehr nahe, zu nahe vielleicht. Seine Habilitationsschrift hat er zu den Xangô verfasst: «Shangó-Transformationen: Vom traditionellen Donnergott der Yoruba zum digitalen Blitzgewitter.»
 

Kaô Kabiecile – grüssen wir Xangô.

Weder früher noch später hatte ich je ein solches Wintergewitter erlebt wie dazumal, als wir Manfred als Vortragenden zu einer Tagung eingeladen hatten. Schnee, Blitze, Donner und Sturm erhellten und erzitterten den Schlosshof durch den Manfred mit wehendem Mantel königsgleich eilte. Fast fürchtete ich, er könnte da, just und jetzt, vom Blitz erschlagen werden, so dicht, so geladen war alles. Er wurde es dort nicht, doch in irgendeiner Weise schien er mir gar wagemutig auf dem Weg zu sein.
«Dürfen wir Dein Antlitz sehen? Mögest Du lange leben!» könnten wir diesen Gruss übersetzen. Ich frage mich heute, ob Dr. Manfred Kremser von dieser rituellen Sprach-Geste wusste und ihre Bedeutung kannte?  Ob er möglicherweise ohne Erlaubnis in Xangôs Antlitz geblickt hat? Vielleicht alles Humbug.

Sicher kein Humbug ist, dass Manfred einige Jahre später an Darmkrebs erkrankte und im März 2013 daran 63-jährig verstorben ist. Ein richtig langes Leben war ihm, dem Grossen, dem Stattlichen, nicht gewährt. 7 Jahre nach seinem Tod schreibe ich mit respekt- und liebevollem Dank all das, was ohne ihn und sein Wirken nie so in mir zusammengekommen wäre.
 

Fürsorge für Verbundenheit

Jetzt aber zurück ins Jahr 1994 und den damals schon unglaublich altertümlichen Pater Noster und die muffigen Gänge und Räume des Wiener Institutes für Völkerkunde. In der Vorlesung rund um Grenzbereiche ethnologischer Forschung ging es Manfred Kremser vermutlich vorrangig darum, die Denkkultur der Studierenden dahingehend anzuregen, dass andere Kulturen allenfalls ganz anders denken, anders wahrnehmen, anders leben. Und dass dieses Andere auch Recht zum Leben hat. Und dass die Art und Weise der wissenschaftlichen Forschung diesem Anderen oft gar nicht gerecht wird: es gar nicht erfassen kann; es oft einschränkt und es allenfalls sogar zerstört. Er musste also wissenschaftliche Grundlagen vermitteln und sie gleichermassen in Frage stellen.
An einem jener erfrischenden Ritte an der Grenze hat er ein ganz einfaches und vereinfachendes Modell dargestellt, dass mir zu einem Verständnis indigener Kulturen verholfen und mich vor allem auch bei der Frage nach dem Phänomen der Inkorporation unterstützt hat. In memoriam an Manfred Kremser lasse ich ihn sprechen:

«Schauen Sie, ich will Ihnen mit dem ganz einfachen Modell zeigen, wie möglicherweise viele Kulturen ihr Leben verstehen. Manchmal wird es als das «Schamanische Kreuz» bezeichnet, aber das ist ungenau und es trifft das Ganze ja gar nicht, weil schliesslich ist hier ein Kreis.»

«Manche von ihnen werden nun vermutlich an das Medizinrad denken, aber darum geht es jetzt auch nicht. Es geht zuerst mal darum, dass es die sichtbare Welt gibt. Also die horizontale Weltenachse und gleichzeitig die unsichtbare Welt, also die vertikale Weltenachse.»

Auf der Horizontalen wohnen also alle Steine, Berge, Bäumen, Pflanzen, Tiere und lebende Menschen. Auf der Vertikalen alle Träume, Erinnerungen, Ahnen, Geister und allenfalls Götter und Göttinnen. Vermutlich gibt’s auch ein Dazwischen, also Tierchen die so klein sind, dass wir sie gar nicht sehen oder Geister, die so dicht sind, dass wir sie spüren. Aber das nur nebenbei.»

«Was also soll der Kreis? Der Kreis erzählt von allen Ritualen und Möglichkeiten, diese beiden Weltenachsen miteinander in Kontakt zu bringen. Und das müssen sie eben: sie müssen immer wieder miteinander in Kontakt sein, so dass das Unsichtbare sichtbar und das Sichtbare unsichtbar werden darf, weil so ist die Erde glücklich. So ist der Weltenbaum glücklich und sind die Sterne glücklich, so sind wir alle glücklich.»

«Schauen sie, um das geht es in vielen indigenen Kulturen mit ihrer reichen rituellen Kultur, sofern wir es verstehen können. Es geht darum, dass die Welten zusammenkommen und zusammen sein dürfen. Es ist also eine ständige Vorsorge gegen die Trennung oder auch eine Fürsorge für Verbundenheit.»

Das war und ist mir heute noch eine einleuchtende Orientierung. Auch für das Phänomen der Inkorporation. Nicht, dass damit alles begriffen oder gar erklärt wäre (wen interessiert das hier schon ;-), nein, aber es macht einen Raum auf, in dem wir weiter erfahren, erforschen und weiter beschreiben können. Und das interessiert – zumindest mich – ganz bestimmt.

PS: »Schauen sie, auch unsere Wissenschaften wollen Unsichtbares sichtbar machen und Zusammenhänge erklären. Nur, dass die meisten dabei die Dinge trennen, isolieren und nicht verbinden. Das ist schon ein bisserl anders.»
 




Kommentare

29.05.2020 | Julia

Querida Iya Habiba, vielen Dank für diesen Beitrag!

Glückliche Erde, glückliche Sterne, glückliche Menschen... wie schön! Was mehr sollte es da noch bedürfen...

Wie ich das mit dem Glück so in mir bewege, fällt mir auf, dass der Begriff des „glücklich-Seins“ so scheint mir, noch gar nicht so sehr von Werbung und Medien ausgeschlachtet wurde wie zum Beispiel der der „Liebe“. Vielleicht scheint es uns doch zu naiv anzumuten noch davon zu sprechen, glücklich sein zu wollen. Dazu fällt mir ein Video von Beyoncé ein, Pretty Hurts: https://m.youtube.com/watch?v=LXXQLa-5n5w (die entsprechende Stelle ist bei 3:50)

Es scheint doch vielleicht zu altmodisch oder zu weit weg, wie eine Legende aus vergessener Zeit, noch wirklich von dem Durchflossensein von Glück, als eine Art Lebensfundament, zu träumen, als einem Grundbedürfnis, oder gar Urzustand der sich bei „artgerechter Haltung“ ;-) einstellt. Da kommt mir: vielleicht hat Glück immer, auf die ein oder andere Weise, mit einer Verbindung der Welten zu tun, so wie man in einer großen Familie froh ist, wenn alle beisammen sind. So ist man vielleicht glücklich, wenn man spürt, dass auch die Unsichtbaren mit dabei sind jeder an seinem Platz und alle passen auf, dass die Kleinsten nicht verloren gehen.

Mögen wir den Mut in unseren Herzen haben, against all odds, die guten Wege zu finden! Axé!



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