2. Februar 2018, Astrid Habiba Kreszmeier
Zum einjährigen Geburtstag von Sanzala ist es ja durchaus legitim, wieder einmal auf Vögel und Eier zu sprechen zu kommen, hat doch der Sanzala Vogel auf seinen Reisen zwischen den Zeiten ein magisches Ei im Schnabel. Zur Erläuterung für alle, die vielleicht jetzt zum ersten Mal hier lesen, oder auch zur Erinnerung: unser Vogel ist inspiriert von einem der ghanesischen Adinkra-Zeichen, nämlich dem Sankofa, dem Vogel, der in die Vergangenheit fliegt, Wesentliches in die Gegenwart bringt und damit zur Zukunft beiträgt.
Vögel können das. Sie sind mächtige Tiere. Und sie spielen nicht nur in den Traditionen und Mythen der Orixás wesentliche Rollen, wenn es um das alte (oft auch weibliche) Recht geht, sondern sind auch in unserem aktuellen kulturellen Erbe in Märchen und Alltagsgeschichten nicht ausgestorben: die einen sitzen den Hexen auf der Schulter, die anderen bringen Kinder und wieder andere werden geradewegs als Todesvögel erkannt. So bemerkenswert all das auch wäre, heute geht es um die Eier. Noch genauer, um Eier, die in fremde Nester gelegt werden.
Es wird sich demnächst alles logisch entschlüsseln, vorerst muss ich beim Kuckuck bleiben, weil ich anfangs meinte der Chupim, der südamerikanische Vogel, der auch seine Eier in fremde Nester legt, sei ein Kuckuck. Das stimmt so nicht. Unser Kuckuck ist der Kuckuck und der Chupim ist der Chupim.
Und unser Kuckuck ist zum Kuckuck wahrlich ein wundersames Tier. Ich wusste zum Beispiel nicht, dass der Kuckuck ein Zugvogel ist, der aus dem südlichen Afrika nach Europa fliegt, um hier zu übersommern und zu brüten. Und dass die Eier des Kuckucksweibchen sich jenen Singvögeln anpassen, von denen sie selbst gefüttert wurden, und dass sie scheinbar wissen, welche Nester das sind, all das ist für mich mehr als einfach bio-logisch. Wie weiss die eierproduzierende Zelle im Kuckucksweibchen welche Singvogeleierart sie imitieren muss, damit die Singvogelmutter meint, es handele sich um ihr eigenes? Was ist hier zwischen Ziehmuttervogel und Kuckuckskind geschehen? Auf welche Zeichen reagiert hier was?
Was mich bei meinen Recherchen ebenso überrascht hat ist, dass just der Kuckuck der Lieblingsvogel von Hera, der Göttinmutter der griechischen Mythologie, gewesen sein soll. Offenbar hat sich ihr Bruder Zeus in einen von einem Unwetter zerzausten Kuckuck verwandelt und bei ihr "Unterschlupf" gefunden und musste sie dann heiraten, was ja später dann einige Seitensprünge und unledige sprich Kuckuckskinder zur Folge hatte. Nun, selbst das ist nicht mein Thema heute. Hier und jetzt geht es um die Eier des Chupim, die auch in fremde Nester gelegt werden.
"Heute kommen zwei brasilianische Künstler als Gäste in unsere Gira in St.Gallen", erzählt mir jemand. "Sie sind in irgendeiner Bibliothek im Appenzell als artists in residence."
Zwei brasilianische Künstler*innen als artists in residence in einer Bibliothek im Appenzellerland, die Giras besuchen. Sehr interessant. Sie sind dann doch nicht gekommen (ist auch verständlich, sie wären nie mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurück in ihre "residence" gekommen), aber es hat mich neugierig gemacht. Wer das sein könnte oder wo sie wohl residieren? Es hat auch nicht viele Klicks gebraucht, um es herauszufinden: Die Andreas Züst Bibliothek im Alpenhof im appenzellischen St.Anton bietet Künstlerstipendien an und im November 2017 waren unter anderem Luisa Marinho und Miro Spinelli, zwei junge Aktionskünstler aus Rio de Janeiro vor Ort.
Kennst du Andreas Züst?
Kennst du den Alpenhof in St. Anton im Appenzellerland?
Luisa Marinho?
Miro Spinelli?
Und weil ich vermuten darf, dass Dir - geschätzte Leser*in - wenn überhaupt, dann nur durch puren Zufall einer oder gar mehrere Genannte ein Begriff sind, sind wir genau am Punkt dessen, worum es den Chupimpapers geht. Nämlich, dass das, was wir wissen und kennen, immer eine Auswahl ist und das diese Auswahl gewissen Gesetzen unterliegt und immer auch gewissen Machtverhältnissen. Wir sitzen sozusagen in gemachten Nestern und bleiben gewiss unter uns, wenn nicht das Schicksal oder andere Kräfte es so wollen, dass ein Kuckuck oder ein Chumpin uns ein Ei einlegt, das unsere Brut und Gewohnheit durcheinander bringt.
Jetzt habe ich schon viel verraten, möchte aber dennoch zu diesem sehr grossen Zufall zurück kommen, dass mein Partner und ich St. Anton im Appenzellerland kennen, ja nicht nur das: dass wir sogar eine gute halbe Stunde Fussmarsch entfernt davon wohnen. Dass dort ein altes Schulhaus zu einer besonderen Pension umgebaut wurde, davon hatten wir schon gehört, aber dass da eine Stiftung und das Vermächtnis eines Fotografen und Künstlers und leidenschaftlichen Büchersammlers untergebracht ist, das war uns neu.
Zudem war es ein sehr, sehr grosser Zufall, dass ich beim Entdecken des künstlerischen Projektes von Luisa, dass sie unter dem Titel "fiction and falsities" lanciert, auch auf einen "Bekannten" stiess: auf Exú. Da steht:
Inspired by the multiplicity of Exú's (Esu, Eshu, Bará, Legbá, Elegbara, Eleggua, Akésan, Igèlù, Yangí, Ònan, Tiriri) facets in Afro-Brazilian mythology, to think about the possible crossroads between Performance Art and Writing - as literature, performance document, critical thinking tool and performative act - Fictions and Falsities (2016/2017) is an ongoing Master's degree project that is been carried out at the Federal University of Rio de Janeiro...
Inspiriert vom Facettenreichtum Exús (Esu....Tiri) in der afro-brasilianischen Mythologie über mögliche Verbindungen von Performance-Kunst und Schreiben und daraus entstehende Literatur, Kunstdokumente, Werkzeuge des kritischen Denkens und performative Akte nachzudenken - ist Fictions and Falsities ein laufendes Masterprojekt...
Das hat mir freilich gefallen: da sitzen nun zwei brasilianische Kunststudent*en unter der Inspiration von Exú in St.Anton. Es hat auch keine Stunde gedauert, haben wir mit ihnen einen kleinen Treff vereinbart und uns auf den Weg durch die Wälder nach oben gemacht.
Luisa und Miro sind junge Menschen, Intellektuelle und Aktivisten, für die das Thema der Entkolonialisierung im Zentrum steht. Hier geht es um Machtstrukturen, Bildungsstrukturen und Kommunikationswege, aber auch um die tägliche Praxis der eigenen "decolonisation - decolonisaçao", erläutern sie eloquent ihren Ansatz und Hintergrund.
Alles Geschriebene ist eine Auswahl und die Wählenden waren Wenige. Und so wie jedem Erinnern auch ein Vergessen beiwohnt und zu jeder Erzählung auch Auslassungen gehören, so ist alles Geschriebene eine Auswahl, allerdings eine Auswahl mit grosser Wirkkraft. Um das Erinnern an das Ausgelassene geht es bei ihrer Bibliothek-Performance unter dem Titel Chupimpapers. Sie haben in allerlei Bücher handgeschriebene Zettel oder Fotokopien von Fotos und Bildern "eingelegt".
Texte und Papiere, die dort nicht hingehören, fremde Eier in gemachten Nestern sozusagen.
Wer wird diese Eier je finden?
Wer wird sie füttern und grossziehen?
Was wird aus ihnen schlüpfen?
Ich weiss es nicht. Aber die Tatsache, dass sie dort liegen und an Künstler*innen, Schrifsteller*innen, Aktivist*innen erinnern, die sonst kaum Stimme erhalten, das fühlt sich gut an.
Schön war auch, Luisa und Miro kennengelernt zu haben, junge Menschen der brasilianischen Bildungselite, die nach ihren Formen suchen, in sich selbst und der Welt koloniale Herrschaftsstrukturen zu verdünnen. Junge Menschen, die bestimmt genug mit sich selbst zu tun haben und doch mit intellektuellem Mut und performativer Bestimmtheit einer gewissen Weltenverlorenheit entgegen treten. Menschen, die handgeschriebene Zettel produzieren, "weil Handschrift heute im digitalen Zeitalter schon als Gegenkraft, als Widerstand verstanden werden kann und dabei gleichzeitig mich selbst dekolonialisiert, mir selbst ein Ei legt", sagt Luisa und kratzt an den Lackresten an ihren Fingelnägeln. Mir ist zum Staunen, zum Weinen und zum Lachen.
Für Eindeutigkeit ist bei diesem Besuch nicht viel Platz: zu vielfältig die Kräfte im Raum im Alpenhof in St. Anton. Exú hatte sicher seine Freude dran.
Links, Fotos und Hinweise:
Andreas Züst Bibliothek
Luisa Marinho: Fiction and Falsities
Miro Spinelli
chupimpapers
Grada Kilomba
Moussa Kone: Orishaimage